VDI zeichnet Technikhistoriker für herausragende Leistungen aus
Die Computergeschichte Indiens und die Energieversorgung Berlins sind die Themen der beiden Werke, die in diesem Jahr mit dem Conrad-Matschoß-Preis des VDI ausgezeichnet wurden.
Am heutigen Eröffnungstag der Technikgeschichtlichen Tagung des VDI in Völklingen wurde der Conrad-Matschoß-Preis verliehen. Mit ihm will der VDI das Interesse für Technikgeschichte stärken, Beiträge zur besseren Verständlichkeit der Technikgeschichte fördern und die technikhistorische Forschung unterstützen.
Pauline Münch und Timothy Moss vom „Integrative Research Institute on Transformations of Human-Environment Systems (IRI Thesys)“ der Humboldt-Universität zu Berlin erhielten den Preis in der Kategorie „populärwissenschaftliche Vermittlung“. Ihre digitale Tour schildert mit Audiobeiträgen, Film- und Fotomaterial die Entstehung von Infrastrukturanlagen der Berliner Energiezufuhr, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Abrufbar ist sie auf der App berlin.history und mit zusätzlichen Inhalten im Internet. „Ihre innovative digitale Tour macht Technikgeschichte am Ort des Geschehens für ein breites Publikum sichtbar und erlebbar“, begründet die Jury die Preisverleihung.
Historiker entzaubert den Mythos der Reichsflugscheiben
Michael Homberg vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) wurde in der Kategorie „fachwissenschaftliche Erarbeitung neuer Erkenntnisse“ ausgezeichnet. Sein Buch „Digitale Unabhängigkeit“ (Wallstein Verlag) analysiert die vielfältigen Pfade der Computerisierung in Indien, die nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Lebens- und Arbeitswelten in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abliefen. „Auf hohem methodischem Niveau und in exzellenter Weise gelingt es Michael Homberg, die enge Verflechtung der Computerentwicklung in Indien mit der internationalen Technologiepolitik und Entwicklungshilfe in der Ära des Kalten Krieges herauszuarbeiten“, so die Jury.
Pauline Münch und Timothy Moss laden zur digitalen Tour zur Berliner Energieversorgung ein
Für VDI nachrichten haben der Preisträger und die Preisträgerin einige Fragen beantwortet.
Zunächst Pauline Münch und Timothy Moss über ihre digitale Tour durch Berlin:
Warum sollte ein Ingenieur oder eine Ingenieurin diese digitale Tour beim Berlinbesuch verwenden?
Um die turbulente Geschichte dieser Stadt aus Sicht ihrer Stadttechnik zu erfahren. Die Tour macht deutlich, wie Energie- und Wasserversorgungssysteme – entgegen populärer Wahrnehmungen – durchaus wandelbar und politisch steuerbar sein können: Zwei wichtige Erkenntnisse angesichts heutiger sozialökologischer Krisen.
Was ist das interessanteste Feature der Tour?
Die Tour kommt nicht nur bei einem Berlinbesuch, sondern vor allem zu Hause zum Einsatz. Sie lebt durch die Kombination von dynamischen Luftaufnahmen und 360-Grad-Fotografien der Technikanlagen, Audioaufnahmen zu ihrer vergangenen und aktuellen Relevanz, historische Fotos aus Archivbeständen, Infotexte und eine Karte Groß-Berlins zur Orientierung.
Welche Station innerhalb der Tour empfehlen Sie unbedingt?
Die Ruths-Dampfspeicheranlage hinter dem Kraftwerk Charlottenburg. Sie wurde in den Jahren 1928/29 errichtet, um den Spitzenverbrauch abzudecken und Stromausfälle zu überbrücken. Während des Kalten Kriegs wurde sie für die „Strominsel“ West-Berlin überlebenswichtig. Heute zeigt sie: Die Flexibilisierung von Stromversorgungssystemen hat eine lange Geschichte.
Bitte vervollständigen Sie den Satz: Die digitale Tour verdient den Conrad-Matschoß-Preis, weil …
… sie das Motto der Ausschreibung „Zukunft braucht Herkunft“ verkörpert.
Wie nutzen Sie die Tour bei Ihrer weiteren Arbeit?
Die Tour dient als Inspiration und Hintergrund für die Schaffung integrativer Ausstellungsräume mit Museumspartnern, um weitere Zielgruppen wie Kinder einzubeziehen und die Relevanz von Infrastruktur weiter hervorzuheben.
Michael Homberg forschte über die Computerisierung von Indien
Michael Homberg beschreibt sein Buch zur Computergeschichte Indiens so:
Warum sollte das Buch ein Ingenieur oder eine Ingenieurin lesen?
Die Geschichte des digitalen Wandels wäre nichts ohne die Geschichte seiner Protagonisten, der Computerspezialisten: Programmierer, Maschinenbauer und Elektroingenieure. Ihren Modernisierungsglauben, ihre Erwartungen und Ängste – zumal in globalhistorischer Perspektive – zu verstehen, kann dazu beitragen, auch die Probleme und Lösungsansätze des 21. Jahrhunderts in ihrem Gewordensein kritisch zu reflektieren.
Was ist die Kernaussage des Buches?
Um die Wege in die „digitale Gesellschaft“ in Europa oder den USA zu verstehen, müssen wir den Globalen Süden in den Blick nehmen. Indiens Weg ins Computerzeitalter war von einem wachsenden Wunsch nach „digitaler Unabhängigkeit“ in der Computerindustrie geprägt; allerdings war das Aufkommen digitaler Expertise zugleich Ergebnis nationaler Anstrengungen und internationaler Kooperationen. Deren durchaus konfliktreiche Dynamiken erklärten sich aus den wechselvollen Geschichten des globalen Kalten Krieges und der Dekolonisation nach 1947.
Was lässt sich für die heutige Debatte um IT-Kräfte aus dem Ausland lernen?
Dass indische Programmierer gerade im Silicon Valley ihren Siegeszug antraten, war sicher bis zu einem gewissen Grad der technologischen Dominanz der USA geschuldet; daneben aber bedingten auch die politischen, rechtlichen und kulturellen Rahmungen der Migration, dass ein Braingain in Europa nie vergleichbare Dimensionen annahm.
Ein wichtiges Zitat im Buch, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
„When it comes to informatics, all countries are developing countries.“ (Unesco-Generaldirektor Amadou-Mahtar M’Bow, September 1978, im Anschluss an das Diktum eines Teilnehmers der „Intergovernmental Conference on Strategies and Policies for Informatics“)
Der Mercedes 600 war die Luxuslimousine der Prominenz
Bitte vervollständigen Sie den Satz: Das Buch verdient den Conrad-Matschoß-Preis, weil …
… es – ausgehend vom Beispiel Indiens – eine neue, innovative Perspektive auf die Geschichte des digitalen Zeitalters als einer Geschichte globaler Verwobenheiten zwischen „Nord“ und „Süd“ entwirft und so die vorrangig westliche Perspektive der Computergeschichte und deren Meistererzählungen auf breiter, archivgestützter Quellenbasis „dezentriert“.
Ausgehend von dem Werk: Wo sehen Sie weiteren Forschungsbedarf?
Wir wissen noch immer viel zu wenig über das Zusammenspiel von digitalem und gesellschaftlichem Wandel abseits der großen industriellen Zentren des Globalen Nordens. Deshalb sind weitere Studien zu Asien, Lateinamerika oder auch Afrika, die die Zirkulation von Mensch und Mikrochip, von digitalen Experten und digitalem Know-how in transnationaler Perspektive betrachten, dringende Desiderate.
Die Technikgeschichtliche Tagung findet unter dem Titel „Technik.Geschichte.Vermitteln. Museen und Orte der Technikgeschichte im Wandel“ noch bis Samstag im Industriedenkmal Völklinger Hütte statt. Sie wird in diesem Jahr gemeinsam vom Interdisziplinären Gremium Technikgeschichte (IGTG) des VDI und der Georg-Agricola-Gesellschaft für Technikgeschichte und Industriekultur ausgerichtet.