Wunderwerk aus Legosteinen
Anfang August bringt der Spielzeughersteller Lego sein bislang größtes Modell aus der Technic-Serie auf den Markt – einen Schaufelradbagger. Designer Markus Kossmann erzählt den VDI nachrichten, wie er bei der Entwicklung eines solchen Modells vorgeht.
Die Finger von Markus Kossmann sind in den Tiefen des Schaufelradbaggers verschwunden. Er kneift die Augen zusammen, so als rufe er sich noch einmal die Anleitung ins Gedächtnis, dann klickt es plötzlich. „Jetzt habe ich es“, sagt er und zieht seine Hand heraus – der sogenannte „Powertrain“ ist wieder verbunden, die Kraft wird wieder vom Motor aufs Getriebe übertragen. Der Bagger erwacht erneut zum Leben.
Die Lego-Gruppe ist ein privates Unternehmen mit Firmensitz im dänischen Billund.
Lego ist mit einem Umsatz von 4,8 Mrd. € (2015) nach Mattel und vor Hasbro der zweitgrößte Spielwarenhersteller weltweit.
Mehr als 15 000 Mitarbeiter arbeiten für die Dänen.
2600 Spritzgussmaschinen produzieren weltweit rund um die Uhr Millionen von Lego-Teilen täglich.
Es gibt 3600 verschiedene Element-Designs, eingefärbt in 60 verschiedenen Farben.
Die Toleranzgrenze für jeden Stein liegt bei 0,004 mm. Das ist dünner als ein Haar.
Allein in Billund lagern über 420 000 Kisten mit Milliarden Einzelteilen.
Im Jahr 2015 wurden beispielsweise rund 675 Mio. Mini-Reifen für Fahrzeuge produziert.
Jeden Tag verbraucht Lego zwischen 80 t und 100 t Kunststoffgranulat. ok/rb
Für Demonstrationszwecke hatte Kossmann die Verbindung zuvor kurz gekappt. Nun legt der 47-Jährige einen Schalter um. Es surrt leise, während der Bagger wieder seine Arbeit aufnimmt und kleine Bauteile auf seinen Förderbändern transportiert.
Kossmann, deutscher Lego-Technic-Designer, steht vor seiner neuesten und größten Schöpfung, einem Schaufelradbagger. 72 cm lang und 41 cm hoch, thront die Baumaschine auf einem Konferenztisch im dänischen Lego-Hauptquartier in Billund. Hinter ihm, in einem Regal, stehen noch andere von Kossmann entworfene kleine Meisterwerke. Falls etwas auszubessern ist, gibt es einen Schrank, in dem Teile griffbereit lagern. Nur wenige Wochen noch, dann wird der Bagger in die Geschäfte kommen und nicht nur Kinderaugen leuchten lassen.
Hubschrauber, Rennwagen, Laster – der Schreiner und Designer hat schon vieles entworfen
Kein Wunder: Baumaschinen gehen immer – gerade in Deutschland. Und einen Schaufelradbagger aus Legosteinen, in der Realität ein Monster von Maschine, ist für Fans solcher Technik die Erfüllung eines Traums.
Kossmann weiß das und hat den Bagger so originalgetreu wie möglich gebaut. Durch die Aktivierung des Auslegers lässt sich sein Schaufelrad zum Graben absenken und Kies, Schutt und Geröll – dargestellt durch kleine mitgelieferte Bauteile – über Förderbänder in einen Kipper befördern. Auf Gleisketten kann der Bagger in eine gewünschte Position manövrieren. Eine kleine Fahrerkabine verdeutlicht die Dimensionen des Ungetüms.
Seit nunmehr 18 Jahren ist Kossmann Lego-Technic-Designer. Hubschrauber, Rennwagen, Laster – vieles hat der gelernte Modellschreiner und Absolvent der Kölner International School of Design schon erdacht und entwickelt. „Der Schaufelradbagger ist das größte Modell, das wir bislang gebaut haben“, sagt er. Das Modell besteht aus 3929 Bauteilen, so vielen, wie kein Modell zuvor hatte.
Lego – das kennt jeder auf der Welt. Generationen spielen, tüfteln und bauen seit über 60 Jahren daheim mit den kleinen Kunststoffsteinen. Es gibt verschiedene Produktlinien für Kleinkinder, für Eisenbahn- und Weltraumfans.
Die Königsdisziplin aber ist die Technic-Produktlinie. „Hier geht es darum, dass etwas nicht nur schön aussieht und leicht baubar ist, sondern dass es außerdem funktionieren muss“, sagt Kossmann. Doch bis ein voll funktionsfähiger Schaufelradbagger tatsächlich entwickelt ist, ist es ein weiter Weg. Ein Weg, der komplex ist und der auch Sackgassen kennt.
Also wie entsteht ein solches Modell? Kossmann atmet durch. Die Beantwortung dieser Frage ist so kompliziert, wie der Bausatz selbst. Dann sagt er: „Jedes Projekt beginnt mit dem Nachdenken über eine Funktion, die man umsetzen möchte.“ Auf den Tisch legt der Designer drei Schaufelräder. Daran will er zeigen, was er damit meint. „Ich komme ursprünglich aus Köln. Dort gibt es in der Nähe Braunkohle-Tagebaue und so dachte ich irgendwann – ein Schaufelradbagger, das wär’s mal“, sagt er.
Also setzte Kossmann sich hin und dachte über eine solche Baumaschine nach: Was macht sie im Kern aus? „Das Schaufelrad. Und so begann ich erst einmal, nur dieses zu entwickeln.“
Aufhängung, Drehmoment, Trägheit, Reibung, Materialaufnahme und -abgabe – der Designer wusste: Würde das Schaufelrad nicht von Beginn an gleich mehrere Kriterien erfüllen, wäre das Projekt bereits gescheitert. „Also baute ich zunächst nur verschiedene Versionen des Rads.“
Schon hier zeigte sich: Eines würde später zu schwergängig sein, ein anderes die gebaggerten Teile nicht richtig auswerfen. Kossmann experimentierte mit verschiedenen Radien, größeren und kleineren Schaufeln, bis er das Gefühl hatte: Jetzt passt alles. Als Nächstes folgten der Ausleger des Baggers, dann der Unterbau und die Förderbänder.
„Ich unterteile ein Projekt in mehrere Einzelschritte: Klappt eine Funktion wie gewünscht, so füge ich die nächste hinzu.“ So denkt er sich nach und nach durch die Aufgaben: Übersetzungen von Rotations- in Linearbewegungen, Kraftübertragung, Hydraulik und Pneumatik – es gibt kein ingenieurtechnisches Thema, das nicht eine Rolle spielt.
Seine Hände fliegen über das Modell, er erläutert, wie man den Motor vom Getriebe entkuppeln kann oder die Umlenkung der Kraft um drei Ecken und über verschiedene Ebenen funktioniert. Man merkt, wie ihm sein eigenes Modell Freude bereitet. „Mein Ziel ist, dass der Bausatz Verständnis für Technik vermittelt.“
Problem: Für ein neues Modell sind oft neue Bauteile nötig. So entwarf Kossmann für das Schaufelrad Viertelkreise, aus denen es sich zusammensetzen lässt. Allerdings: „Man entwickelt solche Teile nie im luftleeren Raum“, sagt Kossmann. Anders gesagt: Sie müssen sich nahtlos ins bestehende System einfügen, kompatibel mit jedem nur erdenklichen Lego-Element sein.
Bevor das endgültige Design steht, entwickelt Kossmann daher mehrere Prototypen. Fragen, die er sich stellt: Für welche Lösung braucht er mehr neue Teile, für welche weniger? Welche Lösung ist eleganter, welche macht mehr Spaß? „So nähere ich mich dem Thema immer weiter.“ Trotzdem tauchen manche Probleme erst ganz zum Schluss auf. Kossmann bewegt den Ausleger seines Baggers um die Drehachse, er verharrt in jeder gewünschten Position. Er lächelt, denn das war nicht immer so. „Während der Entwicklung wollte der Ausleger, an dessen einem Ende das Schaufelrad sitzt, einfach nicht im Gleichgewicht bleiben, auch wenn ich noch so viel Gegengewicht ans andere Ende packte“, erinnert er sich. Erst die Idee, den gesamten Motor samt Batterie in den Ausleger zu verfrachten, löste das Problem. Insgesamt ein Jahr hat die Entwicklung des Schaufelradbaggers gedauert – so lange, dass Kossmann die Bauanleitung trotz der fast 4000 Teile komplett im Kopf hat.
Erdacht und entwickelt wurde der Bagger im sogenannten „Innovation House“, wenige Meter entfernt von dem Konferenzraum, in dem Kossmann seinen Bagger vorführt. „Doch dort darf niemand hinein, das ist unser Allerheiligstes“, sagt er. Nur spezielle Zutrittskarten ermöglichen das Eintreten. Kein Wunder: Dort entstehen die Bauträume von morgen. Ein wenig erzählen darf Kossmann aber schon. „Es ist ein Großraumbüro mit vielen PC-Arbeitsplätzen – aber es gibt eben auch sehr, sehr viel Lego auf den Tischen“, sagt er. „Wir bauen unsere Ideen physisch zusammen, der Computer dient der Designunterstützung oder der Recherche.“
Denn natürlich holt sich auch ein Designer seine Inspirationen oft aus der echten Welt: „Ich bin zum Beispiel viele Baumaschinen gefahren, um ein Gefühl für sie zu entwickeln“, sagt Kossmann.
Woran er aktuell entwickelt, darf der Designer nicht erzählen, nur so viel: Gemeinsam mit neun Kollegen tüftelt er derzeit an verschiedenen neuen Modellen, elf neue Produkte kommen jedes Jahr auf den Markt.
Offener ist der Spielwarenhersteller hingegen, wenn es darum geht, zu zeigen, wie die Bausteine produziert werden. Ein Rundgang führt durch eine Fabrikhalle, in der rund um die Uhr Millionen Bauteile gespritzt werden. Menschen sind kaum zu sehen. Kunststoffgranulat wird dort so erhitzt, dass es etwa so zähflüssig wie Zahnpasta wird. Dann wird es in Formen gepresst. Je nach Werkzeug entstehen so Dutzende Bauteile auf einmal, die in einen Auffangbehälter fallen und dann von Roboterfahrzeugen abgeholt werden. Es ist laut in der Fabrikhalle, man versteht kaum sein eigenes Wort, 64 Maschinen versehen gleichzeitig vollautomatisch ihren Dienst. Auch Kossmanns Entwürfe werden hier Realität, zerlegt in viele kleine Einzelteile, aufgeteilt auf die stoisch arbeitenden Presswerke.
Doch bevor die Einzelteile samt Anleitung dann in Pakete wandern, gehen sie zunächst in ein Hochregal. Über 420 000 Kisten stehen in einer Halle nebenan, die 23 m hoch ist – ein unermesslicher Vorrat an Bauteilen, jetzt schon gelagert u. a. für die Weihnachtszeit.
Dabei reißt der Nachschub niemals ab. Jeden Tag laden mehrere Lkw draußen tonnenweise Granulat ab, das vor der Verarbeitung in großen Silos zwischengespeichert wird. Es ist der Grundstoff, aus dem kleine Bauträume sind – auch Kossmanns Traum von einem Schaufelradbagger. Eine riesige Maschinerie, die betrieben wird, um die kleinsten Teile ganz groß werden zu lasssen.
So klackert drinnen auf dem Konferenztisch ein kleines Teil nach dem anderen vom Förderband des Schaufelradbaggers in den kleinen Kipper. Es klingt so, als wollten die Bauteile sagen: Es ist Zeit für den Start eines neuen Projekts. Verständlich, auch das tollste Wunderwerk beginnt schließlich immer mit dem ersten Stein.