Eiskalte Trennung: So lassen sich geklebte Stahlverbindungen nachhaltig lösen
Immer mehr Werkstoffe, so auch Stahl, werden im Automobilbau verklebt. Für die Kreislaufwirtschaft aber müssen sie sich wieder lösen lassen. Einem Forschungsteam gelingt das jetzt mit einem einfachen Trick: Es kühlt die Bauteile extrem runter.
Ob Leichtbaukarosserien, Sicherheitsgläser oder Traktionsbatterien: 9 % der jährlichen Klebstoffproduktion entfallen mittlerweile auf die Fahrzeugbranche. Oder anders ausgedrückt: Bis zu 18 kg Klebstoff können heutzutage in einem Auto stecken. Will man verklebte Stahlbauteile am Lebensende eines Fahrzeugs trennen, gibt es allerdings ein Problem: Die hohen Festig- und Zähigkeiten sowohl der Stahlwerkstoffe als auch der Klebstoffe bewirken, dass es zu hohen Materialverlusten kommt. Doch nun haben Tim Michael Wibbeke und Aurélie Bartley vom Lehrgebiet Fertigungstechnologie Mechatronik der Hochschule Hamm-Lippstadt sowie Gerson Meschut und Nick Chudalla vom Laboratorium für Werkstoff- und Fügetechnik der Uni Paderborn dafür eine „eiskalte“ Lösung gefunden. Mit einer Trockeneisstrahlanlage haben sie die Tauglichkeit ihres Verfahrens in einem Demonstrator bereits unter Beweis gestellt hat.
Entfügen erfolgt bislang mit Heißluftfön und Karosseriemeißel
Bisher geht das so: Schweißpunkte an Karosseriestrukturen werden mit Spezialfräsen entfernt und Nieten herausgedrückt. „Hochfeste, crashstabile Klebeverbindungen mussten bislang bei relativ hohen Temperaturen von 350 °C bis 500 °C, zum Beispiel mit einem speziellen Heißluftfön und mit Karosseriemeißeln, aufwendig entfügt werden“, erklärt Wibbeke. Durch den mechanischen Druck aber werden die Bauteile so stark deformiert, dass sie für eine Wiederverwendung kaum taugen.
Weiteres Problem: „In Karosseriestrukturen haben wir häufig Mehrlagenverbindungen – das heißt, es sind mehrere Klebschichten übereinander angeordnet. Durch die hohen Temperaturen werden die darunterliegenden Klebschichten thermisch geschädigt“, ergänzt Meschut. Im Rahmen eine Projekts der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF), die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert wird, suchte das Forschungsteam nach einem neuartigen Ansatz – und zwar, die Klebeverbindungen mittels tiefer Temperaturen schnell, einfach und nachhaltig sowie bauteilschonend zu lösen.
Werkstoffeigenschaften werden durch die Kältebehandlung nicht beeinflusst
Zunächst interessierten sich die Forschenden für Parameter, unter denen die Klebstoffe „effizient und kraftarm“ und ohne Verformung der Bauteile entfügt werden können. „Wir konnten zeigen, dass bei einer kurzzeitigen Abkühlung von zirka minus 60 °C die Werkstoffeigenschaften unbeeinflusst bleiben. Das macht unser Verfahren besonders schonend und gut geeignet für die Kreislaufwirtschaft der Karosserieteile“, hebt Bartley hervor.
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Aufbauend auf diesen Forschungsergebnissen, setzte das Team einen Demonstrator ein, der auf einer Trockeneisstrahlanlage basiert. „Zur besseren Kälteeinbringung wurde ein Gemisch aus CO2 und Ethanol verwendet. Das verweilt auf dem Bauteil und kühlt die darunterliegende Klebschicht ab“, beschreibt Chudalla den Prozess zur Vorbereitung des materialschonenden Entfügens.
Ein Spezialist für Unfallreparaturen wendet das Verfahren zum Kaltentfügen bereits an
Auch die Wirtschaft ist bei dem Projekt vertreten. Peter Vogel, Geschäftsführer der Vogel GmbH & Co. KG – Karosserie und Lackiercenter, und seine Mitarbeiter verwenden das Kaltentfügeverfahren bereits seit April 2022. Der Unfallreparaturspezialist fasst die Wirkung der Forschungsergebnisse zusammen: „Für uns ist eine effiziente, nachhaltige, schnelle Reparatur von Multimaterialmix-Karosserien extrem wichtig. Bei dem Kaltentfügeverfahren werden bestehende Strukturen entsprechend geschont und wir können damit eine schnellere und saubere Reparatur generieren. Das ist für uns extrem wirtschaftlich und nachhaltig.“
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Und Rainer Salomon, Geschäftsführer der AiF-Forschungsvereinigung Stahlanwendung e. V. – FOSTA, ergänzt: „Allein über den Zentralverband Fahrzeug- und Karosserietechnik erreichen wir über 3200 Unternehmen mit den IGF-Ergebnissen, die diese jetzt auch wirklich anwenden können. Da sie großserientauglich sind, bedeutet dies große Vorteile im Werkstoffkreislauf.“ Überall wo Stahl eingesetzt wird, könne das neue Entfügeverfahren ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit steigern.
Einen vierminütigen Film zum Projekt finden Sie im Medienraum der AiF-Website.
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Übrigens gehören die Forschenden mit ihrem Projekt „Analyse des Versagensverhalten geklebter Stahl-Verbindungen bei werkstoffschonenden Entfügen in der Karosserieinstandsetzung“ zu den drei Finalistenteams für den Otto von Guericke-Preis 2023. Das Forschungs- und Transfernetzwerk AiF Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen Otto von Guericke e. V. vergibt den mit 10 000 € dotierten Preis seit 1997. Damit werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für besondere Innovationsleistungen auf dem Gebiet der vorwettbewerblichen Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) geehrt.