UMWELT 27. Jun 2019 Ralph H. Ahrens Lesezeit: ca. 4 Minuten

Gerangel ums Stickoxid

Gegen den Widerstand Deutschlands senkt die EU die Obergrenze für Stickoxidemissionen aus Braunkohlekraftwerken.

Das Braunkohlekraftwerk Weisweiler gehört zur den Industrieanlagen mit den höchsten Schadstoffemissionen in ganz Europa.
Foto: panthermedia.net/Werner Nick

Für mehr als 3000 kleinere und große Feuerungsanlagen schreibt die EU ab sofort den Stand der Technik neu fest. Fachleute aus den Mitgliedsstaaten, der EU-Kommission sowie von Industrie- und Umweltverbänden hatten dafür seit 2011 um die jeweils besten verfügbaren Techniken (BVT) gerungen.

Stickoxide (NOx)

bilden sich als unerwünschte Nebenprodukte in Motoren und Kesseln. Besonders Stickstoffdioxid (NO2) belastet die Atemwege und das Herz-Kreislaufsystem. Sowohl NO2 als auch Stickstoffmonoxid (NO) versauern Böden und Gewässer. Die EU hat für die Belastung mit diesen Schadstoffen Obergrenzen festgelegt.

1 m³ Luft darf im Jahresmittel nicht mehr als 40 µg NO2 enthalten. An verkehrsnahen Messstationen wird dieser Wert oft nicht eingehalten. 2016 geschah dies an gut 57 % dieser Stationen.

Deutschland darf seit 2010 nicht mehr als 1,051 Mio. t NOx emittieren. Diese Obergrenze wird trotzdem regelmäßig überschritten. 2014 waren es laut Umweltbundesamt (UBA) 1,224 Mio. t.

Dem BVT-Referenzdokument stimmten nun die EU-Staaten mehrheitlich zu – wenn auch mit geringfügigen Änderungen. Bei der Emission von Feinstaub, Schwefeldioxid, Stickoxiden (NOx) und Quecksilber wird es in vier Jahren schärfere Vorgaben geben.

„Die von Deutschland angeführte Braunkohlelobby wurde überstimmt“, zeigt sich Christian Schaible vom Europäischen Umweltbüro (EEB) zufrieden. Zu dieser Lobby zählten auch Bulgarien, Finnland, Polen, Rumänien, die Slowakei, Tschechien sowie Ungarn.

„Das Votum war denkbar knapp“, ergänzt Schaible. Denn nötig war eine qualifizierte Mehrheit von 65 %. Diese erreichten 20 EU-Staaten mit einem Stimmengewicht von 65,14 % so grade. Zuvor wurde gedealt: So stimmte Griechenland mit einem Stimmengewicht von 2,11 % dem Paket erst zu, nachdem beschlossen wurde, dass die neuen BVT-Vorgaben für den Einsatz von Schweröl in Dieselmotoren auf Inseln erst ab 2030 gelten (zum Vergleich: Deutschlands Stimmengewicht beträgt 16,06 %).

Das Referenzdokument war umstritten. So störte sich die Bundesregierung an den Werten für NOx-Emissionen aus Braunkohlekraftwerken ( 300 MW Wärmeleistung). Hier galt im Normalbetrieb eine Obergrenze von 200 mg NOx/m³ im Jahresmittel. Künftig soll es eine Bandbreite von 85 mg bis 175 mg NOx/m³ geben.

Die Bundesregierung hält den oberen Grenzwert aber für nicht sachgerecht und schlug stattdessen 190 mg/m³ vor. „Wir haben uns auf die wissenschaftliche Einschätzung des Umweltbundesamtes gestützt“, sagt Stephan Gabriel Haufe, Sprecher im Bundesumweltministerium.

Das Referenzdokument erkennt mehrere Maßnahmen zur Senkung der NOx-Emissionen als BVT an, so das UBA. Etwa die Luftzufuhr im Kessel so zu regeln, dass wenig Stickstoff oxidiert. Oder das Rauchgas nachträglich zu entsticken. Hier bieten sich die selektive nicht-katalytische Reduktion (SNCR) und die wirksamere, aber teurere selektive katalytische Reduktion (SCR) an.

Aber eine Kombination von Maßnahmen werde nicht vorgeschrieben, betont UBA-Fachmann Rolf Beckers. „Die Anwendung ausschließlich feuerungstechnischer Maßnahmen wird auch als BVT angesehen.“ Eine aktuelle Umfrage des UBA in den Bundesländern, in denen Braunkohlekraftwerke betrieben werden, zeigte, dass die Kraftwerke im Jahresmittel mit feuerungstechnischer Optimierung zwischen 160 mg und 195 mg NOx/m³ freisetzen.

„Nur vier von 28 deutschen Braunkohleblöcken emittieren zuverlässig unter 175 mg/m³“, weiß Beckers. Es sind jeweils zwei an den Standorten Lippendorf in Sachsen und Schwarze Pumpe in Brandenburg. Aber auch Braunkohlekraftwerke in Griechenland emittieren seit 2010 weniger als 175 mg/m³, ergänzt Schaible. Die Ableitung des 175-mg-Wertes hält er deshalb für sachgerecht. Und: Gegen ein Kombination von Maßnahmen hat er nichts einzuwenden.

„Die 175 mg können mit SNCR-Technik sicher eingehalten werden“, meinen Bernd von der Heide, Geschäftsführer des Essener Unternehmens Mehldau & Steinfath Umwelttechnik, sowie Wolfgang Schüttenhelm, zuständig für Geschäftsentwicklung und Technik bei ERC Technik in Buchholz. Beide Unternehmen bauen diese Technik in Müllverbrennungs- und Biomasseanlagen sowie in osteuropäische Stein- und Braunkohlekraftwerke ein. Die NOx-Emissionen lassen sich so – zusätzlich zu feuerungstechnischen Maßnahmen – um 30 % bis 50 % senken.

Ein Beispiel: ERC hat Block 3 des weltweit größten Braunkohlekraftwerks im polnischen Bełchatóv im Jahr 2016 mit einer SNCR-Anlage nachgerüstet. „Dort wird seitdem der gültige NOx-Grenzwert von 200 mg/m³ um 50 mg/m³ unterschritten“, betont Schüttenhelm.

SNCR sei aber kein Wunderwerk, sagt Anlagenbauer von der Heide: „Wir ordnen im Kessel mehrere Lanzen um die Feuerung herum an, durch die wir abhängig vom NOx-Gehalt im Kamin Reduktionsmittel eindüsen.“ Dies sind Chemikalien, die unter Wärmeeinwirkung Ammoniak (NH3) bilden, das mit NOx zu Stickstoff und Wasserdampf reagiert.

Wichtig sei dabei die Temperatur, ergänzt von der Heide. Die Reaktion von NH3 mit NOx verlaufe günstig zwischen 950 °C und 1030 °C. Wird es in der Feuerung jedoch heißer als 1200 °C, verbrenne das Reduktionsmittel selbst zu Stickoxiden. Dies kann in vielen Kraftwerken bei Volllast geschehen. „Wir kühlen dann das Rauchgas, indem wir an der Lanze selektiv Wasser eindüsen.“

Doch die politische Diskussion ist damit noch nicht beendet. Das Gerangel geht weiter. Jetzt wird um Ausnahmen und die anstehende Revision der Großfeuerungsanlagenverordnung gestritten.

„Im Sinne einer sachgerechten Umsetzung können Genehmigungsbehörden im Einzelfall Ausnahmen erteilen“, erklärt Haufe. Sie dürfen geringfügig höhere Jahresemissionen zulassen, wenn sich die 175-mg-Obergrenze nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand einhalten lässt.

Indes erwartet das UBA nur geringe Verbesserungen für die Luftqualität. „Im Braunkohle-Kraftwerkspark würden die NOx-Emissionen im Mittel um 10 mg/m³ sinken“, schätzt Beckers. Dies entspreche einer Minderung der Jahresfracht um 5 % – und damit um gut 4500 t. Die NOx-Gesamtfracht von 1,22 Mio. t aus allen Quellen würde damit um weniger als 0,4 % sinken. Die Belastung mit Stickstoffdioxid (NO2) in Innenstädten würde nicht messbar sinken.

Die Freisetzung von Stickoxiden würde jedoch deutlich zurückgehen, orientierte sich die Bundesregierung nicht am 175-mg- Ziel, sondern am technisch Möglichen, so Schaible. „Wir fordern einen NOx-Jahresgrenzwert von max. 85 mg/m³ für Kraftwerke, die bis 2027 noch laufen werden.“ Dazu müssten die Werke ihr Rauchgas katalytisch entsticken – so wie es heute bereits bei Steinkohlekraftwerken üblich ist. „Damit lassen sich rund 90 % der NOx in Stickstoff umwandeln.“ Falls ein Kraftwerksblock bis 2024 vom Netz geht, würde Schaible eine Obergrenze von 150 mg/m³ akzeptieren, welche mit der preiswerteren SNCR-Variante erreichbar ist.

Zudem hält Schaible das Nachrüsten mit SNCR oder SCR für vertretbar. „Beides lohnt sich volkswirtschaftlich bereits nach wenigen Jahren.“ Er verweist auf Zahlen der Europäischen Umweltagentur in Kopenhagen: Jede Tonne eingesparter NOx-Emission verringere etwa Gesundheitskosten und Schäden an der Umwelt von bis zu 19 000 €.

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