Flutkatastrophe 05. Aug 2021 Von Heike Freimann Lesezeit: ca. 6 Minuten

Hochwasser flutet Teile von Stolbergs Metallindustrie

Stolberg kämpft seit Langem gegen den Strukturwandel. Jetzt hat hier die Flutkatastrophe die metallverarbeitende Industrie hart getroffen. Ein Besuch bei Prym, Kerpen Datacom und Aurubis im Vichtbachtal.

Land unter: Vor der Firmenzentrale von Prym wird das Ausmaß für die Infrastruktur deutlich. Ganze Fahrbahnabschnitte sind weggebrochen und gekappte Kabel und Leitungen liegen frei.
Foto: picture alliance/dpa/Ralf Roeger

Kerpen Datacom liegt inmitten von Grün an der Zweifaller Straße, Stolbergs alter Industriemeile. Hinter Tor 1 viel roter Backstein und weiß getünchte Verwaltungsbauten. Davor die Hauptverwaltung, ein grauer Betonbau auf Stelzen, den sie nur das Hochhaus nennen. David Schlenter kommt über den Hof, die hellblaue Jeans und das T-Shirt voller Flecken. Anfang Juli haben sie hier am Vichtbach den Management-Buy-out von großen Teilen des Kabelbereichs von Leoni mit einem Grillfest gefeiert. „Wir sind mit vollen Auftragsbüchern gestartet“, erzählt Schlenter. Doch dann stieg der Bach über die Ufer und trieb eine Welle der Zerstörung durchs Kabelwerk. Dem geschäftsführenden Gesellschafter steht der Schock noch ins Gesicht geschrieben.

Die Flutwelle stand 2,20 m in den Gebäuden

Am frühen Mittwochabend hatte sich der Pegel des Vichtbachs auf 1 m verdoppelt. Da war das THW schon vor Ort und sagte, man kann nichts mehr tun, ihr müsst weg. 40 min bekamen sie noch zur Rettung des Serverraums. Gegen Mitternacht ist der Vichtbach mit einer meterhohen „Flutwelle“ reingespült und stand 2,20 m hoch in den Gebäuden. An einer der Hallen hat das Wasser eine Geröllschicht aufgetürmt. Eine Tür mussten sie 1,5 m tief ausgraben.

Weiter draußen hat sich ein großer Papiercontainer mitten auf eine Wiese gesetzt. „Den hat das Wasser 500 m rausgetragen“, sagt Schlenter und schüttelt ungläubig den Kopf. Über einen Steg gehts jetzt über den Bach, der wieder ein Bächlein ist, weiter zu den Datenkabeln. Die fertigt Kerpen für die Gebäudeverkabelung, quasi als Rückgrat für Netzwerke. An den Fertigungslinien ist das große Wasser schon raus.

Hier werden normalerweise Kupferlitzen isoliert und zu Paaren und Aderseelen verseilt, dann geschirmt und ummantelt. Jetzt sind sie dabei, die Maschinen auszuspülen. „Die Mechanik lässt sich instand setzen, das Problem ist die Elektrik.“ Draußen stehen Kabeltrommeln mit frisch gefertigten Chargen. Sie hat die Flut mit Schlamm und Schutt überzogen und teils mit Heizöl aus dem Nachbarort Vicht kontaminiert. „Das ist jetzt alles Schrott“, sagt der Firmenchef bitter.

Aufgeben ist bei Kerpen Datacom keine Option

Auf dem Weg zur neuesten Fertigungshalle hellt sich sein ernster Blick auf. An einer Hochleistungsaderlinie liegen die Steuerungen im ersten Stock und sind wohl intakt geblieben. Die hofft Schlenter schnell wieder in Betrieb zu nehmen. Aufräumen, reinigen, instand setzen – was immer geht, will Schlenter zusammen mit seiner Belegschaft stemmen. „Wir wollen kämpfen, dass wir das schaffen.“ Die Mitarbeiter zögen voll mit. „Da kann man absolut stolz drauf sein.“ Um die 180 Arbeitsplätze zu erhalten, müsse aber auch der Staat helfen. Zurzeit gibt es noch Unterstützung vom Technischen Hilfswerk. „Zehn Mann, die machen einen Superjob“, sagt Schlenter dankbar.

In zwei Wochen soll die Stromversorgung wieder stehen, dann wollen sie hier wieder 40 % der Gesamtproduktion erreichen. Aufgeben ist für den Wirtschaftsingenieur keine Option. Von den Investoren komme volle Rückendeckung. „Sie sind alle langfristig engagiert.“ Und es gebe viel Hilfsbereitschaft bei Zulieferern und auch Kunden. Schlenter: „Wir hoffen, dass wir in sechs Monaten wieder volle Kapazität haben.“

Verfangen: Im Waldstreifen neben der Zweifaller Straße, wo metallverabeitende Betriebe ihren Sitz haben, sammelte sich Treibgut.

Foto: Heike Freimann

Patrick Haas, der Bürgermeister von Stolberg, will die Stadt mit seinen Ideen zur Stadtentwicklung im Zeichen des Klimawandels zum Vorbild für ganz Deutschland machen.

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Mit Wucht: Die Gewalt der Strömung des eigentlich ruhigen Vichtbachs ist kaum vorstellbar. Beim Kupferspezialisten Aurubis wurde ein Großcontainer in die Halle getrieben.

Foto: Aurubis AG

Schrott: Der Schlamm trocknet in der Sonne. Doch er hat auch diese Kabel ruiniert.

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Ansgar Nonn, CEO von Prym, vor einem Notstromaggregat. Er macht sich Sorgen um den Materialnachschub. Auch die spezialisierten Zulieferer von Deutschlands ältestem industriellen Familienunternehmen sind von der Flut betroffen.

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David Schlenter, geschäftsführender Gesellschafter von Kerpen Datacom, ist immer dabei, wenn es ums Aufräumen geht. Er ist stolz auf seine Mitarbeiter, die alle mit anpacken. „Wir wollen kämpfen.“

Foto: Heike Freimann

Verklemmt: Eine Kabeltrommel steckt in einer Maschine fest. Es dürfte Monate dauern, bis bei Kerpen Datacom wieder mit voller Kapazität produziert werden kann.

Foto: Heike Freimann

Verschlammt: Dreck überzieht alles – auch dieses Steuerpult beim Kupferspezialisten Aurubis. Es ist wohl kaum noch zu retten.

Foto: Aurubis AG

Die alte Kupferstadt kämpft tapfer gegen den Strukturwandel

In der alten Kupferstadt Stolberg mit ihren rund 56 000 Einwohnern sind Industrie und produzierendes Gewerbe ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Doch die Arbeit reicht längst nicht mehr für alle. Die Arbeitslosigkeit liegt im Schnitt bei 8,8 %, fällt aber im Ballungsraum am Vichtbach deutlich höher aus. Der Migrationsanteil ist hoch, die Einkommen sind vielfach niedrig, es gibt verbreitet Kinderarmut. Stolberg kämpft tapfer mit dem Strukturwandel.

Auf der Zweifaller Straße stadteinwärts ist zurzeit alles abgesperrt, nur Anlieger dürfen passieren. Über weite Strecken ist der Asphalt unterspült. Ganze Fahrbahnabschnitte sind weg und gekappte Kabel und Leitungen liegen frei. Im Waldstreifen hat sich Treibgut verfangen.

Aus dem Vichtbach wurde ein reißender Strom

Nächstes Ziel: Prym, Deutschlands ältestes industrielles Familienunternehmen, 1530 in Aachen gegründet, seit 1642 in Stolberg. Hier arbeiten heute rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und produzieren u. a. Druckknöpfe für die Bekleidungsindustrie und Kontaktelemente für die Automobilindustrie. Hinter Tor 1 geht es vorbei an historischen Backsteinbauten. Notstromaggregate säumen den Weg. Ansgar Nonn kommt in hellen Jeans und robustem Schuhwerk aus einer Besprechung. Der promovierte Chemiker ist seit dreieinhalb Jahren CEO der Prym Group und kann es kaum glauben. Kein Strom, kein Telefon. Die Produktion steht still. „Im Moment geht hier gar nichts.“

Als am Mittwochnachmittag Mitte Juli die Feuerwehrsirenen heulten, hat er sich durch den Starkregen zur Ufermauer gekämpft. Da war aus dem Vichtbach schon ein aufgepeitschter Strom geworden, es fehlten vielleicht 30 cm bis zum Überlaufen. Er hat nicht lange gefackelt und die Mitarbeiter nach Hause geschickt. „Das war auf den letzten Drücker“, sagt der Prym-Chef. „Es gab keinerlei Warnung, nichts. Das hätte uns geholfen.“ Eine Notbelegschaft stürzte sich dann in den Kampf gegen das Hochwasser.

In der Produktion ist der Geschäftsbereich Inovan, der für die Automobilindustrie fertigt, betroffen. Nonn ist optimistisch. In zwei Wochen könnte der Betrieb hier wieder laufen. Deutlich schlimmer sehe es bei Prym Fashion, den Verschlusssystemen für die Textil- und Bekleidungsindustrie, aus. „Das könnte Monate dauern.“

Prym hat in seiner langen Geschichte schon einiges erlebt

Es ist vor allem der Materialnachschub, der Nonn jetzt Sorgenfalten ins Gesicht schreibt. „Wir hängen an der Verfügbarkeit von Materialien.“ Die kämen von sehr spezialisierten Zulieferern, die vielfach selbst vom Hochwasser betroffen seien. Wie beispielsweise vom Nachbarn Aurubis, der Kupferbänder liefert. „Wir haben noch keine Informationen, keinen Überblick, wie lange das dauern wird, bis wir die wieder bekommen können.“

Aber Prym hat mit seinen weltweit 3500 Mitarbeitern an 20 Standorten in der langen Firmengeschichte schon vieles erlebt. „Wir lassen uns nicht unter Wasser ziehen“, sagt Nonn mit fester Stimme. Die Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen sei riesig. Ebenso die Hilfsbereitschaft. Und seine Zuversicht kehrt zurück: „Wir müssen uns jetzt selber helfen – da hilft ja nix.“

Axel Wirthmüller war nachmittags kurz nach Hause gefahren, doch ein ungutes Gefühl trieb den Betriebsleiter Fashion und Inovan Stolberg wieder zurück. Eine dramatische Nacht lang hat er zusammen mit Mitarbeitern und der Feuerwehr versucht, wenigstens Teile des Werks zu sichern. Da drückte der Vichtbach von der Straße her die Fenster ein, schoss durch die Kellerschächte und schwemmte am Ende sogar schwere Pumpgeräte der Feuerwehr hinweg. Um 2:30 Uhr gab der Einsatzleiter der Stolberger Feuerwehr schließlich Befehl zur Eigensicherung. Zusammen harrten sie dann bis Tagesanbruch im oberen Stockwerk aus.

Ein Feldlazarett für Coils und Bänder

Auf dem Weg zum Oberflächenzentrum, der Herzkammer von Prym Fashion, sitzen Werker in der Mittagspause auf Klappstühlen. Wirthmüller hat einen Imbissstand organisiert. Ein Kümmerer. „Man braucht doch jetzt was Gutes zu essen.“ Auf der Galvanisierungsanlage werden normalerweise Druckknöpfe veredelt. Die Mechanik sei weitgehend intakt. Aber die Steuerung eine Etage tiefer im Keller ist das Problem. Hier standen auch Teile des Hochmateriallagers im Wasser. Draußen haben sie ein Zelt aufgebaut, eine Art Feldlazarett für Coils und Bänder. „Wir sind bemüht, so viel zu retten wie möglich.“

Für Aurubis steht der Standort nicht zur Disposition

Angela Seidler sitzt in Hamburg vorm Bildschirm. In der Zentrale des Kupferkonzerns Aurubis haben sie zuletzt sorgenvoll nach Stolberg geblickt. Nur wenige Meter von Prym entfernt fertigen 400 Mitarbeiter hier Bänder und Drähte aus Kupfer und Kupferlegierungen für die Elektro- und Automobilindustrie und den Maschinenbau.

Die erste Schadensbilanz: „Es ist alles kaputt“, sagt die Leiterin der Konzernkommunikation. Die Elektronik, die Steuerungen, die Anlagen, alles müsse getrocknet und neu installiert werden. Jetzt hilft eine Reinigungsfirma, die Massen an Schutt, Dreck und Geröll abzutransportieren. Parallel sei man dabei, sich mit den Versicherern einig zu werden. Noch sei nicht klar, wann man die Produktion wieder komplett aufnehmen könne. Der Standort stehe nicht zur Disposition, es werde alles wieder aufgebaut. Die 400 Arbeitsplätze seien gesichert.

Sorgen macht sich Aurubis um die Infrastruktur. „Wir brauchen diese Zufahrtswege“, sagt Seidler. Das müsse jetzt schnell gehen. Die Aufräumarbeiten und die Fortschritte bei der Infrastruktur – das gebe den Menschen auch Hoffnung.

Erst kam Corona, dann das Hochwasser

Patrick Haas ist mit seinem Stab bei der örtlichen Krankenkasse untergekommen. An der Tür im ersten Stock ein handgeschriebener Zettel: Bürgermeister. Der sitzt in Jeans und rotem Poloshirt am Rechner. Dass er seit dem Unwetter im Dauereinsatz ist, sieht man dem leicht gebräunten Enddreißiger mit Fitnessarmband nicht an. Haas (SPD) ist seit drei Jahren im Amt. Erst kam die Corona-Pandemie und jetzt ein 10 000-jähriges Hochwasser. „Normale Zeiten hatte ich nie.“

Mit der RWTH Aachen und dem regionalen Wasserverband Eifel-Rur hat Haas in Windeseile ein Konzept zum Wiederaufbau der Stadt und zum Schutz vor künftigem Extremwetter entwickelt. Zwei Wochen nach der Katastrophe wurde es der nordrhein-westfälischen Umweltministerin Ursula Heinen-Esser vorgelegt. Wenn es nach Haas geht, soll Stolberg mit seinen Ideen zur Stadtentwicklung im Zeichen des Klimawandels Vorbild für die Region und ganz Deutschland werden.

Dabei gehe es auch um Wirtschaftsförderung. „Viele Unternehmen sind hier sehr stark verwurzelt“, weiß der Bürgermeister. „Wir erleben, dass uns der Mittelstand unterstützt, ob beim Wegfahren von Müll oder beim Wiederherstellen von Straßen.“ Ihnen will der Bürgermeister etwas zurückgeben. Es brauche Vorteile für Unternehmen, die trotz Leerstand und Hochwasserrisiko am Standort bleiben, beispielsweise bei der Gewerbesteuer. So könne man das Tal des Vichtbachs wieder beleben, glaubt Haas. Und viele Arbeitsplätze retten.

Die Menschen in Stolberg packen an

In der Innenstadt steht jetzt das Stromnetz wieder. Straßen NRW baut. Haas ist überzeugt: „Wir schaffen es schnell, die Infrastruktur wiederherzustellen.“ Aber es brauche auch Hilfe von Land und Bund.

Auf dem Weg durch die Stadt bleibt Haas auf einer Brücke über dem heute so trägen Vichtbach stehen und winkt ein paar Anrainern zu. Er weiß: „Es gibt viele Menschen, die jetzt vor dem Nichts stehen. Sie brauchen schnell eine Perspektive.“ Seinen Stolbergern traut er in der Krise viel zu. Es gebe ein großes Wir-Gefühl. Haas ist überzeugt: „Die Menschen hier lassen auch mal ihren Frust raus und sagen klar ihre Meinung, aber dann packen sie an.“

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