ICE: Maßgeschneiderte Klimatisierung für jeden Fahrgast
Im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß – in Deutschlands Zügen stimmt selten das Raumklima. Das will die Deutsche Bahn ändern.
Wer schon einmal eine sommerliche Fahrt in einem ICE ohne Klimaanlage verbracht hat, neigt leicht dazu, vom Lager der Bahn-Anhänger in das der Bahn-Hasser zu wechseln. Da hilft dann auch die freundliche Durchsage nichts, dass im Bord-Bistro gratis Wasser an die dehydrierten Fahrgäste ausgegeben wird. Manchmal steigen die Temperaturen einfach zu stark. Der Wagen muss ganz geschlossen werden, die Passagiere müssen das Abteil räumen. Das passiert zwar nur bei 0,3 % der Fahrten, in den modernen ICE noch seltener, wie die Bahn versichert. Aber klar ist: Es sollte gar nicht passieren.
Alexander Hartberg, Sprecher Technik bei der DB, schildert gegenüber der Deutschen Presseagentur die Herausforderungen für die Technik: „Klimaanlagen müssen viel leisten.“ Sie laufen viele Stunden am Tag bei fast jedem Wetter und sorgen für Frischluft und die gewünschte Temperatur. Und das jahrelang. Denn einige ICE sind seit 1991 im Einsatz. Außentemperaturen von bis zu 45 °C können die derzeit verbauten Klimaanlagen bewältigen. Ob das angesichts des Klimawandels und der Zunahme von Extremwettern in Zukunft ausreichend ist, ist fraglich. Zumal die Einflussfaktoren auf die Leistung der Anlagen vielfältig sind. Die Sonneneinstrahlung spielt genauso eine Rolle wie die Zahl der Reisenden oder offene Türen beim Halt des Zuges. Luftfeuchtigkeit und Kohlenstoffdioxidgehalt der Luft müssen in Modellrechnungen berücksichtigt werden.
Lesen Sie hier unsere Reportage aus dem Demonstrator-Fahrzeug der Bahn, in dem die neuesten technischen Entwicklungen für die Klimatisierung getestet werden:
Das Gelände der DB Systemtechnik in Minden ist leicht zu finden. Vom Hauptbahnhof geht es einfach Richtung Busbahnhof und schon sind die großen Buchstaben „DB“ zu sehen. Es ist ein windiger Tag, zum Glück aber gibt es im Eingangsbereich einen geschützten Platz, um auf die Abholung zu warten. Das Betreten des Geländes ist nur nach Anmeldung erlaubt; immerhin ist die DB Systemtechnik Europas größtes Kompetenzzentrum für Bahntechnik. Hier wird an Innovationen getüftelt, hier werden Neuerungen getestet und geprüft.
Auf einer grünen Wiese steht ein ausrangierter ICE-Waggon, als hätte das Kind eines Riesen sein Spielzeug liegen gelassen. Es ist ein Erste-Klasse-Wagen des ICE-V, des Urahns aller ICE. Von 1985 bis zu seiner Ausmusterung im Jahr 2000 war er als Versuchszug für zahlreiche Experimente im Hochgeschwindigkeitsverkehr im Einsatz. Bis heute hält er mit 406,9 km/h den Geschwindigkeitsrekord auf deutschen Schienen. Doch ohne diese Schienen wirkt der ICE auf der Wiese irgendwie skurril.
Die Aufmerksamkeit gilt heute einem anderen ICE-Wagen, einem Zweite-Klasse-Wagen, der weiter hinten auf dem Gelände parkt. „DIRK“ prangt in großen Buchstaben auf seiner Außenwand. Bereits seit 2020 erforschen die Deutsche Bahn (DB) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam, wie man die Klimatisierung in Zügen nicht nur komfortabler, sondern auch effizienter und wirksamer gestalten kann. Forschung, die unter realen Bedingungen auf dem deutschen Schienennetz nahezu unmöglich wäre.
Demonstratorfahrzeug für Innovationen im Komfort
Genau deshalb wurde DIRK entwickelt. DIRK ist ein Akronym und steht für „Demonstrator-Fahrzeug für Innovationen im Reisendenkomfort und Klimatisierung“. Der umgerüstete Zweite-Klasse-Wagen aus einem ICE 2, Modell Bpmz 802.9, hat 74 Sitzplätze. Bis zum Jahr 2019 war er im regulären Betrieb der DB im Einsatz, Anfang 2020 wurde er zum nahezu stationären Experimentierfahrzeug umgebaut. Mit moderner Sensortechnik ausgestattet, soll er helfen, den Komfort der Reisenden zu verbessern und den Energieverbrauch der Klimaanlage zu senken. Im Waggon verteilt sind dafür etwa 100 Messpunkte. Sensoren erfassen Raumlufttemperatur, Zulufttemperatur, Oberflächentemperatur, relative Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, CO2-Gehalt, Energieverbrauch und vieles mehr.
In Minden kann DIRK in eine spezielle Klimakammer der DB rangiert werden. Dort lassen sich unterschiedlichste Außen- und Umgebungsbedingungen wie Hitze und Kälte, tropische Luftfeuchtigkeit und extreme Sonneneinstrahlung simulieren. Hier sind ausgedehnte und realitätsnahe Untersuchungen zum thermischen Komfort und zur Luftqualität in Schienenfahrzeugen möglich, ohne dass ein Fahrzeug aus dem Betrieb genommen werden muss.
Lebensgroße Dummies im Zug
Eine kleine Metalltreppe steht zum Einsteigen bereit, Bahnsteige gibts nicht auf dem Gelände der DB Systemtechnik. Echte Reisende sind hier nicht vorgesehen. Innen wirkt DIRK auf den ersten Blick wie jeder andere ICE-Waggon, den man an Bahnsteigen in ganz Deutschland sehen könnte: Eingangsbereich, gläserne Schiebetür, ein Mittelgang, links und rechts die üblichen Sitze, eine Gepäckablage über den Köpfen, die helle Deckenverkleidung mit den Tausenden kleinen Öffnungen für die Klimatisierung – alles normal im scheinbar leeren Waggon.
Doch einige Sitzplätze sind wohl doch besetzt, der Blick bleibt hängen an menschlichen Silhouetten. Es sind schwarze Puppen, leicht glänzend und mit einer merkwürdig geriffelten Oberfläche. Die lebensgroßen Dummies simulieren echte Menschen, Techniker haben sie auf einzelne Sitze im Wagen verteilt.
Andere Sitze sind mit unzähligen Kabeln und Halterungen für Sensoren ausgestattet – an den Kopfstützen, Armlehnen und auch im Kniebereich. Messfühler kleben auch innen und außen an den Fensterscheiben. Denn hier im Demonstratorfahrzeug werden unter realen Bedingungen eines ICE-Wagens detailliert Daten zu Luftqualität und -strömungen sowie zu Temperaturen von Luft und Oberflächen erhoben. Die Messpunkte sind standardisiert, zum Teil sind sie sogar von Normen zur Klimatisierung vorgegeben.
Wärmebildkamera zeigt, wie ein menschlicher Körper Wärme abstrahlt
In einer Vierersitzgruppe mit Tisch haben die Techniker heute einen großen Bildschirm aufgebaut. Er zeigt bunte Farbverläufe – Grün geht in Gelb, Orange und knalliges Rot über. Das Bild einer Wärmebildkamera, die auf eine der schwarzen Puppen und deren Umgebung gerichtet ist. Es lässt erkennen: Die schwarze Puppe ist beheizt, sie strahlt wie ein menschlicher Körper Wärme ab. Würde die Klimaanlage laufen, könnte man auf dem Monitor erkennen, wo die Puppe wie stark auskühlt. So testen die Forschenden verschiedene Konfigurationen und Einstellungen der Klimaanlage: für einen kühlen Kopf, gegen kalte Füße bei der Bahnfahrt.
Und darum geht es in diesem Hightech-Forschungslabor auf Rädern: um Innovationen, die Bahnreisen durch gute Klimatisierung komfortabler machen. Die Klagen, im Sommer sei es zu heiß, im Winter zu kalt, kennen die Fachleute nur allzu gut. Im DIRK verfolgen sie nun ihre Träume bis hin zu einer individuellen Klimatisierung für jeden einzelnen Sitzplatz. Denn während ein Fahrgast friert, nachdem er über drei Stunden eingenickt war, schwitzt ein anderer, weil er gerade noch im Sprint seinen Zug erreicht hat.
Klimatisierung im ICE: zweitgrößter Energieverbraucher
Doch wie kann man die Klimatisierung so optimieren, dass sich jeder wohlfühlt? Wesentlich für gutes Klima im ICE sind Tausende kleine Löcher an der Wagendecke: Durch sie strömt frische Luft – vor allem über dem Mittelgang – von oben gleichmäßig in den Wagen. Sie sorgt für angenehme Temperaturen, ohne Zugluft zu erzeugen. Im Sommer wird eher gekühlte Luft zugeführt, im Winter meist erwärmte. Unten, in Bodennähe, wird die Luft abgesaugt, sodass eine gleichmäßige Zirkulation sichergestellt ist.
Verbrauchte Luft wird teils nach draußen abgeführt, teils wird sie mit frischer Außenluft gemischt, gefiltert und über die Löcher in der Decke erneut dem Kreislauf zugeführt. In beiden Fällen hilft die Luft aus dem Waggon, die Frischluft auf die richtige Temperatur zu bringen. Eine Win-win-Lösung: komfortabel für die Reisenden, energieeffizient für die Bahn, für die die Klimatisierung nach dem Antrieb der zweitgrößte Energieverbraucher der Schienenfahrzeuge ist.
Um den Energieverbrauch zu senken, passt sich die Klimatisierung bedarfsabhängig an die Zahl der Insassen im Wagen an. „Wenn der Zug von Hamburg nach München fährt und der Waggon zwischen Hannover und Würzburg leer ist, kann man den Außenluftanteil reduzieren, um Energie zu sparen“, erklärt Tim Berlitz, Fachkoordinator für Klimatechnik im Bereich Aerodynamik und Klimatechnik der DB Systemtechnik GmbH: „Und wenn der Zug durch einen Tunnel fährt, in dem keine Sonneneinstrahlung wirken kann, wird die Kühlleistung entsprechend reduziert.“
Anpassung der Frischluftzufuhr
Berlitz steht leicht angelehnt an einen Sitz. Er weiß, wie viel Energie durch gezielte Maßnahmen eingespart werden kann. Die Anpassung der Frischluftzufuhr etwa bringt übers Jahr rund 10 % Energieersparnis: Das sind ungefähr 8000 kWh. Aber: Das Wohlbefinden der Fahrgäste darf nicht beeinträchtigt werden.
Um das genauer zu untersuchen, wurden die Sitzpuppen im ICE-Wagen mit Sensoren ausgestattet, die die lokalen Äquivalenttemperaturen erfassen – sozusagen die gefühlte Temperatur. Im Wärmebild leuchten die Dummies auf ihren Sitzplätzen im Moment konstant in roter Farbe. Kein Luftstrom kühlt die beheizten Puppen, denn die Klimaanlage läuft gerade nicht.
Zusammenarbeit mit Deutschem Zentrum für Luft- und Raumfahrt
Mit einer Nebelmaschine macht Daniel Schmeling deutlich, wie vor den Dummies die Luft aufsteigt aufgrund der Wärme, die sie selbst abstrahlen. Schmeling gehört zu den Forschenden des Göttinger Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik am DLR, die im DIRK mitarbeiten. Ein Knopfdruck, und die Maschine hüllt einen Teil des ICE-Wagens in Nebel. Elegant ziehen die künstlichen Schwaden durch den Gang, umhüllen die Köpfe der still dasitzenden Dummies, steigen weiter auf und lösen sich allmählich auf.
„Der Nebel ist vergleichbar mit dem, was man in Diskotheken sieht“, erklärt Schmeling. Der Nebel selbst wird nicht temperiert, er soll die Temperaturmessung möglichst nicht beeinflussen. Mit dieser Technologie konnten die Forschenden im DIRK zum Beispiel in der Pandemiezeit von Covid-19 zeigen, wie schnell die Luft im ICE-Wagen ausgetauscht wird, wie schnell infektiöse Aerosole aus dem Raum weitgehend entfernt werden. Viele Fahrgäste stiegen damals trotz Masken mit einem mulmigen Gefühl in den Zug; dabei erfolgt in Zügen und Flugzeugen der Luftaustausch viel schneller als beispielsweise in einem Klassenzimmer.
Problem: Regelmäßig werden Außentüren geöffnet
„Anfangs hätte man nicht vermutet, dass Flugzeuge und Züge technisch so ähnlich sind“, sagt Andreas Dillmann. Dennoch weist der Direktor des DLR-Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik in Göttingen auch auf wesentliche Unterschiede hin: „Ein Flugzeug ist ein geschlossenes System, sobald die Tür geschlossen ist. Bei Zügen ist das anders; hier gibt es Türen, die sich öffnen und schließen, und Passagiere steigen regelmäßig ein und aus. Dies stellt bei der Klimatisierung eine größere Herausforderung dar als bei einem Flugzeug.“
Die Zusammenarbeit im Demonstratorwagen sehen DLR und DB als Grundlagenforschung: „Das DLR baut keine Züge, sondern arbeitet eng mit den Herstellern und Betreibern zusammen, die diese Fahrzeuge entwickeln und betreiben“, so Dillmann. „Wichtig ist, dass sie uns die realen Herausforderungen benennen, auf die wir uns dann fokussieren.“ So gelinge sinnvoller Technologietransfer, wie die Übertragung von Messtechniken, die für Flugzeuge entwickelt wurden, auf den Einsatz im Schienenverkehr.
Die schwarzen Dummies absolvierten ihre ersten Einsätze in Tests für Flugzeugkabinen, jetzt sind sie auch im Zugwaggon im Einsatz. Denn, so erklärt es Dillmann: Reisende bleiben Reisende, ob sie nun fliegen oder fahren. Und für die ist Komfort an Bord ein entscheidender Faktor. Auf eine klimaneutrale Zukunft hoffen alle, die an diesem Nachmittag im DIRK zusammengekommen sind – ebenso wie auf eine Zukunft ohne die in deutschen Zügen so häufige Verspätung!