So reagieren die Klima-Kippelemente, wenn das 1,5-Grad-Ziel verfehlt wird
Kipppunkte sind kritische Schwellen im Klimasystem. Was aber passiert, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel überschreiten, auch wenn es nur für eine gewisse Zeit ist?
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Es ist schon lange absehbar, dass eine Fortführung der derzeitigen Klimapolitik einen Bruch mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens bedeutet. Was aber passiert dann? Forscherinnen und Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) haben sich dafür einige entscheidende Knackpunkte des Klimasystems angesehen, die sogenannten Kippelemente. In die Untersuchungen sind auch Emissionsszenarien eingeflossen, also mögliche Entwicklungen der globalen Treibhausgasemissionen.
Ihr Fazit: Die derzeitige Klimapolitik birgt ein hohes Risiko für das Kippen kritischer Elemente des Erdsystems. Sollten wir uns ein Überschreiten des 1,5-Grad-Ziels erlauben, dann verringern wir die dadurch entstehenden Risiken deutlich, wenn wir gleichzeitig danach möglichst schnell die Emissionen wieder verringern und die Erwärmung so rasch wie möglich wieder umgekehrt wird. Das wiederum heißt: Alles hängt davon ab, wie schnell wir CO2-neutral werden (also net zero erreichen), und damit auch, wie sich die Klima- und Energiepolitik bis 2030 entwickeln werden.
Klima: Forschung quantifiziert erstmals Risiken für Kippelemente in Abhängigkeit von der Klimapolitik
Daher hat sich das Forschungsteam erstmals vier dieser speziellen Kippelemente unter den Bedingungen eines sogenannten Overshoots angesehen: Die Forscherinnen und Forscher haben also angenommen, dass das 1,5-°C-Ziel für eine bestimmte Zeit überschritten wird, aber dann doch nachträglich erreicht wird. Diese Zielzeiträume lagen Ende 2300 (mittelfristig) und in 50.000 Jahren (langfristig). Allerdings wird das 1,5-°C-Ziel bei entsprechend progressiven Szenarien der Klimapolitik schon viel früher erreicht, nämlich bis 2100.
So konnten sie die Risiken für Kippelemente quantifizieren, zeitweise das 1,5-°C-Ziel bis Ende des Jahrhunderts zu überschreiten, und wie sich das auswirken würde auf den für Kippelementen mitunter typischen Zeitskalen. „Unsere Berechnungen zeigen: Bleibt es in diesem Jahrhundert beim Stand gegenwärtiger Klimapolitik und bestehender Klimaschutzmaßnahmen, besteht ein hohes Risiko von 45 %, dass mindestens eines der vier untersuchten Elemente bis 2300 kippt!“, so Tessa Möller, Wissenschaftlerin am IIASA (Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse) und PIK.
Dafür sei die Verringerung der Emissionen im laufenden Jahrzehnt ganz entscheidend, schreiben die Forschenden des PIK, des IIASA und anderer Institute in der Fachzeitschrift „Nature Communications“. „Während wir bei einem Overshoot über 1,5 °C in einen Risikobereich für Kippelemente gelangen, steigt dieses Risiko für einen Overshoot über 2,0 °C noch einmal drastisch an“, fasst Kippelemente-Experte Nico Wunderling vom PIK zusammen. Jedes Zehntelgrad zählt also. Szenarien, die sich an der gegenwärtig umgesetzten Klimapolitik orientierten, würden bis zum Ende dieses Jahrhunderts schätzungsweise zu einer globalen Erwärmung von 2,6 °C führen. Daher die Schlussfolgerung der Autorinnen und Autoren der Studie, dass schnell etwas geschehen müsse und das aktuelle Jahrzehnt zwischen 2020 und 2030 entscheidend sei für den weiteren Verlauf.
Mehr als 2 °C Erderwärmung erhöhen das Kipprisiko stark
Im Zentrum der Studie stehen vier miteinander verbundene Kippelemente: Der grönländische Eisschild, der westantarktische Eisschild, die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, kurz AMOC) und der Regenwald im Amazonas. „Die vier untersuchten Kippelemente regulieren maßgeblich die Stabilität des Klimasystems der Erde“, begründet das PIK die Auswahl dieser vier Kippelemente in einer Mitteilung. „Unsere Studie bestätigt, dass Kipprisiken als Reaktion auf die Überschreitung der 1,5 °C minimiert werden können, wenn die Erwärmung rasch umgekehrt wird. Eine solche Umkehrung der globalen Erwärmung kann nur erreicht werden, wenn die Emissionen bis 2100 mindestens Netto-Null erreichen“, sagt Studienautor Wunderling.
Der letzte Satz ist besonders wichtig: Die menschgemachten Treibhausgasemissionen müssen wirklich netto null erreichen, sonst gelingt es langfristig nicht, Kipprisiken wirksam gering zu halten. „Sollte ein Erreichen von Netto-Null-Emissionen nicht gelingen, steuern wir langfristig auf Temperaturen auf einem zu hohen Niveau zu“, erklärt Wunderling.
Auch ein Szenario, das langfristig netto sehr geringe, aber positive Treibhausgasemissionen vorsieht – diese Emissionen würden zum Beispiel nicht kompensiert durch CCS oder vergleichbare Mechanismen – würde längerfristig die Wahrscheinlichkeit stark ansteigen lassen, dass die Kipppunkte überschritten würden. Gleiches, so Wunderling, würde gelten, falls wir bei 1,5 °C einfach die Emissionen einfrieren würden.
Zwei Kippelemente könnten schon den Kipppunkt überschritten haben
Wobei zwei dieser Kippelemente bereits eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben, dass wir schon oberhalb ihrer Kipppunkte liegen, das sind die inländischen Eisschilde Grönlands und der Westantarktis. Und hier kommt dann zum Tragen, dass die vier Kippelemente untereinander verbunden sind. „Kippinteraktionen destabilisieren das Klimasystem und damit die Kippelemente zusätzlich zur globalen Erwärmung. Sie gehen typischerweise von den Eisschilden aus, und breiten sich dann über globale Meeresströmungen wie die AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation, Anm. d. Red.) in äquatoriale Richtung aus und können dort weiteren Einfluss haben, zum Beispiel auf die Stabilität des Amazonas-Regenwalds“, skizziert Wunderling die Dynamik.
Diese Interaktionen sind recht komplex. Circa 1 Mio. Simulationen hätten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daher rechnen lassen, um diese Abhängigkeiten abbilden zu können, so Wunderling. Beispiel: Es sind Szenarien für die Treibhausgasemissionen denkbar, in denen der Inlandeisschild Grönlands erst deutlich und schnell abschmilzt und dadurch auch andere Systeme ihren Kipppunkt erreichen, zum Beispiel die AMOC. Der Eisschild braucht dennoch mindestens mehrere Jahrhunderte bis Jahrtausende, bis er verschwunden ist; aber die AMOC kann schon nach einem halben Jahrhundert in Gefahr sein. So könnte – je nach Emissionsentwicklung – sich der grönländische Inlandseisschild doch noch mittelfristig wieder stabilisieren, die AMOC aber bliebe verschwunden.