Klimaneutrale Wirtschaft: Globale Chancen für die deutsche Industrie
Wie die deutsche Industrie dank grüner Technologien wieder in die Puschen kommen kann, erklären das Wuppertal Institut und die Universität Kassel.
Deutschland steht an einem Wendepunkt, der auch im folgenden Bundestagswahlkampf eine zentrale Rolle spielen dürfte: Während die Klimakrise weltweit drängt, steckt die deutsche Wirtschaft in einer tiefen Krise. Der Weg aus dieser Misere könnte ausgerechnet in der Umstellung auf Klimaschutz liegen – das zeigen zwei aktuelle Studien. Einerseits sehen Wissenschaftler in der Transformation der Industrie enorme Potenziale für Wachstum und Innovation. Andererseits mahnt ein internationales Ranking der Bertelsmann Stiftung, dass Deutschland mehr tun muss, um seine Klimaziele zu erreichen. Was steckt dahinter? Welche Schritte sind notwendig, um Vorreiter in Sachen Klimaneutralität zu werden und die deutsche Industrie zu retten?
Kann die Transformation der Industrie in Richtung Klimaschutz die Wirtschaftskrise lösen?
Laut der Studie „Klimaneutrales Deutschland – Von der Zielsetzung zur Umsetzung“ von Agora Energiewende, dem Wuppertal Institut und der Universität Kassel könnte die deutsche Industrie bis 2045 klimapositiv werden. Das Szenario zeigt konkrete Wege auf: Elektrifizierung der Prozesswärme, verstärkter Einsatz recycelter Materialien und der Umstieg auf neue Technologien in der Stahl- und Zementproduktion. Eine vollständige Umstellung erfordert jedoch gewaltige Investitionen und eine verlässliche politische Strategie.
„Ein klares Leitbild für Investitionen und politische Rahmenbedingungen“ seien unerlässlich, sagt Georg Holtz, Senior Researcher im Forschungsbereich Sektoren und Technologien am Wuppertal Institut. Ein Beispiel: Bis 2040 könnte der Erdgasverbrauch der Industrie nahezu auf null gesenkt werden, während sich der Strombedarf verdoppelt. Damit wird eine stabile Stromversorgung zur zentralen Herausforderung. Die Studie sieht auch CCS (Carbon Capture and Storage) als notwendige Klimaschutztechnik (s. unten).
Warum steht Deutschland im internationalen Klimaschutzvergleich nur auf Platz 7?
Die zweite Studie, „SGI 2024 Policy Brief Transformational Policy Strategies deutsch“ der Bertelsmann Stiftung, zeigt, dass Deutschland in einem Vergleich von insgesamt 30 OECD- und EU-Staaten Nachholbedarf hat. Besonders in der Energiewende und der Kreislaufwirtschaft liege Deutschland hinter den Spitzenreitern wie Schweden, Finnland und Spanien.
„Um die Vorreiterstaaten zu erreichen, müssten Ziele und Maßnahmen im Bereich der Energiewende und der zirkulären Wirtschaft allerdings besser aufeinander abgestimmt werden“, sagt Christof Schiller, Governance-Experte der Bertelsmann Stiftung und Leiter des Projekts zu den Sustainable Governance Indicators (SGI). Deutschland habe zwar ambitionierte Ziele wie Klimaneutralität bis 2045, aber an der Umsetzung hapere es. Klare Zwischenziele und ein Überwachungssystem fehlten (s. auch Kasten am Textende).
Was kann Deutschland von den Spitzenreitern lernen?
Die nordischen Länder und Spanien haben ihre Ziele konsequent mit Aktionsplänen untermauert. Sie nutzen umfangreiche Kennzahlen, um Fortschritte zu messen, und haben Subventionen für fossile Energien drastisch reduziert, so die Studie. Deutschland könnte von diesem Ansatz profitieren, indem es Planungs- und Umsetzungsprozesse besser koordiniere und Lücken in der Infrastruktur schließe. Hier wird vor allem die mangelnde Koordination beim Stromnetzausbau kritisiert. Warum der ein Problem ist und teuer, hat auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung neulich untersucht.
Ein weiterer Punkt ist die Kreislaufwirtschaft. Während Länder wie Finnland und Schweden klare Strategien verfolgen, fehlt es in Deutschland an konkreten Vorgaben, wie Ressourcen effizienter genutzt werden können. Dabei, so macht Mitautor Clemens Schneider, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Sustainable Technology Design und am Kassel Institute for Sustainability der Universität Kassel, deutlich, hängen Kreislaufwirtschaft und Klimaschutz eng zusammen: „Die Potenziale für den zukünftigen Einsatz recycelter Materialien konnten wir durch eine detaillierte Modellierung von Produktionsketten robuster ermitteln als in bisherigen Studien.“
In welchem Bereich liegen für die deutsche Industrie die Gewinnchancen beim Klimaschutz?
Das Wuppertal Institut und die Universität Kassel nennen zentrale Erkenntnisse aus dem Industrie-Szenario in sechs Bereichen:
- Prozesswärme-Bereitstellung: kann und sollte weitgehend elektrifiziert werden, vor allem durch Wärmepumpen für niedrige Temperaturbereiche. „Der Stromverbrauch der Industrie würde sich so zwar verdoppeln, aber gleichzeitig ließe sich der Erdgasverbrauch bis 2040 auf nahezu null senken.“
- Biomasse: nicht verbrennen, sondern vor allem stofflich nutzen – oder, zur Sicherung von Negativemissionen, in Kombination mit CCS-Verfahren für negative Emissionen nutzen. Für die Chemieindustrie ist Biomasse eine Alternative zu fossilen Rohstoffen.
- Kunststoffabfälle und Nebenprodukte aus der Chemieindustrie: mehr recyceln und so ebenfalls fossile Rohstoffe in der Chemieindustrie ersetzen.
- Stahlindustrie: Ausstieg aus der Hochofenroute, Umstieg auf Direktreduktion bis 2035.
- Zementklinker: Nutzung ließe sich laut Studie um mehr als 40 % senken.
- CCS: sollte primär im Verbund mit technisch unvermeidbaren CO2-Strömen in der Zement- und Kalkindustrie sowie der Abfallwirtschaft zur Anwendung kommen. Ebenso bei treibhausgasintensiven Punktquellen (Stahl, Chemie). Langfristig mit energetischer Biomassenutzung für Negativemissionen. „Ein zu starker Fokus auf fossiles CCS in diesen Branchen birgt jedoch Risiken für Lock-in-Effekte und Wettbewerbsfähigkeit.“
Welchen Einfluss haben internationale Entwicklungen auf die deutsche Industrie?
Die Transformation der Industrie findet nicht isoliert statt. Geopolitische Spannungen, drohende Zölle und internationale Investitionen in grüne Technologien beeinflussen die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Besonders die USA investieren massiv in die grüne Transformation, was zusätzlichen Druck auf europäische Unternehmen ausübt. Geopolitische Spannungen sowie Ankündigungen aus den USA zur Einführung oder Erhöhung von Zöllen könnten den Welthandel behindern. Schon bisher stellte sich die Frage, wie sich die resiliente Versorgung für die Energiewende mit den dafür notwendigen Rohstoffen und strategischen Gütern sichern lässt?
Hier könnte Deutschland punkten, indem es sich als Technologieführer für klimaneutrale Lösungen positioniert. Das ist als Botschaft nicht neu, die Analyse des Wuppertal Instituts und der Universität Kassel zeigt aber noch einmal das Potenzial auf. Dann stellt sich direkt die Frage:
Ist Klimaschutz wirklich eine wirtschaftliche Chance für die deutsche Industrie?
Ja, und das ist die zentrale Botschaft der Agora-Studie: Durch Technologien wie den Einsatz von Biomasse, Recycling und CO2-Abscheidung kann die deutsche Industrie nicht nur klimaneutral, sondern sogar klimapositiv werden. Gleichzeitig biete die Umstellung eine große Chance für neue Märkte und Arbeitsplätze. Allerdings hänge der Erfolg maßgeblich davon ab, ob die Politik Planungssicherheit schafft und die notwendigen Investitionen ermöglicht. Ohne klare Rahmenbedingungen drohen Unternehmen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern. Dabei sind die benötigten öffentlichen Investitionen angesichts der angespannten Haushaltslage ungewiss
Als Fazit der Studien lässt sich ziehen, dass Deutschlands Weg zur Klimaneutralität schwer sein dürfte, aber eine enorme Chance darstellt. Mit klarem Fokus auf Innovation und internationale Zusammenarbeit könne das Land seine Wirtschaft stärken und gleichzeitig Vorreiter im globalen Klimaschutz werden. Was sich damit logischerweise nicht verträgt, ist eine Politik des Herumeierns oder eine Rückabwicklung der bereits vorhandenen Ausrichtungen in Sachen Klimaschutz und grüner Technologien.