Schaltanlagen: Neue Gasgemische statt Treibhausgas
Schwefelhexafluorid, kurz SF6, zählt zu den Klimagasen, die im Weltklimaabkommen, dem Kyoto-Protokoll, gelistet sind. 1 kg dieses Gases ist, auf einen Zeitraum von 100 Jahren betrachtet, genauso wirksam wie 22 800 kg Kohlendioxid (CO2). SF6 ist damit nach Angaben des Weltklimarats IPCC das stärkste bekannte Treibhausgas. Grund genug, intensiv nach Alternativen für seine industriellen Anwendungen zu suchen.
Treibhausgas Schwefelhexafluorid
-Treibhausgaspotenzial: 1 kg Schwefelhexafluorid (SF6) ist, auf einen Zeitraum von 100 Jahren betrachtet, genauso wirksam wie 22 800 kg Kohlendioxid (CO2). Die Lebensdauer in der Erdatmosphäre beträgt 3200 Jahre.
-Emissionen: Das Earth System Research Lab (ESRL) der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) misst seit Langem die atmosphärische SF6-Konzentration. Der Trend: Die Zunahme seit 1993 ist ungebremst.
-Dunkelziffer: NOAA-Physiker Pieter Tans schätzt, dass die Statistik der gemeldeten SF6-Mengen nur 30 % der Emissionen wiedergibt. mig
Seit Jahren existiert bereits eine freiwillige Selbstverpflichtung aller SF6-Hersteller und -Betreiber, Freisetzungen des Gases – wo immer möglich – zu vermeiden. Eingesetzte spezifische SF6-Mengen zur Funktionserfüllung sollen minimiert werden. Das gilt auch für den Einsatz des Gases in gasisolierten Schaltanlagen der Hochspannungstechnik. Dort ist SF6 die Standardlösung für moderne Anlagen.
Nach Einschätzung von Christian Franck, Leiter des Hochspannungslabors am Institut für Elektrische Energieübertragung der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, wirkt diese von verschiedenen Industrieverbänden gezeichnete Verpflichtung zumindest in europäischen Ländern.
„Die Produkte werden besser, so dass es weniger neue Emissionen gibt; die Dichtigkeit zum Beispiel von gasisolierten Schaltanlagen wurde erhöht“, so der Plasma-Physiker Franck. Es gebe zudem Schulungen für Anwender, so dass im Umgang beim Befüllen und Entleeren der Anlagen weniger Gas entweiche. In den Fabriken werde verstärkt darauf geachtet, dass bei Zwischentests und in der Herstellung weniger Verluste entstehen.
Die Aufnahme des Gases ins Kyoto-Protokoll bedeutet auch: Alle Vertragsstaaten müssen Auskunft über ihre Emissionen geben. Bei der weltweiten Datenerfassung zu Schwefelhexafluorid machen jedoch Ländern wie China und Russland nicht mit.
Im Zuge der rasanten industriellen Entwicklung Chinas wird allerdings – nicht zuletzt in Wissenschaftlerkreisen – angenommen, dass dort mit der Neuinstallation vieler Energieanlagen starker Gebrauch von SF6 als Schutzgas gemacht wird und bei unsachgemäßer Anwendung auch Gas in die Atmosphäre aufsteigt. Messungen und aufwendige Simulationen zeigen, dass von der Nordhalbkugel mehr als 94 % aller SF6-Emissionen ausgehen. Entsprechend zählen China, Russland, Europa, und Nordamerika zu den Hauptemittenten.
Mit der Suche nach Alternativen zu SF6 in industriellen Anwendungen haben sich bereits viele kluge Köpfe befasst – bisher ohne Erfolg. Nach Ansicht des ETH-Forschers Franck wäre die Elektroindustrie angesichts der steigenden SF6-Konzentration in der Atmosphäre gut beraten, weiter intensiv an einem Ersatz zu forschen. „Denn wenn man SF6 nicht mehr benutzt und die Emissionen steigen, kann man immerhin sagen, man ist nicht schuld.“
Seit Januar 2010 forscht Franck zum Thema SF6-freie, gasisolierte Schaltanlagen in der Energietechnik. Seine Einschätzung: „Der Versuch, ein Gas durch ein anderes zu ersetzen, ist zu einfach gedacht.“ Das ETH-Forschungsteam verfolgt nun ein neues Konzept bei der Suche nach SF6-Alternativgasmischungen und will in Kooperation mit der Elektroindustrie klimafreundliche Lösungsansätze finden.
Untersucht werden in einer Versuchsanlage die Entladungsvorgänge in Gasen auf makroskopischer Ebene an sich – „ein Thema, das bisher vor allem Metier der Atom- und Molekülphysiker war und weniger in der Hochspannungstechnik angesiedelt war“, erläutert Franck.
Die Wissenschaftler entwickelten zunächst ein Verfahren, mit dem sich neuartige molekulare Gase systematisch identifizieren und quantifizieren lassen – Gase, die angesichts ihres niedrigen Treibhauspotenzials für den Einsatz als Gasgemisch in Hochspannungsanlagen geeignet sind.
Um neue Moleküle zu identifizieren, stellte die ETH-Forschungsgruppe eine empirische Korrelation zwischen der elektrischen Stärke eines Gases und bestimmten molekularen Eigenschaften her. Die Parameter dieser vorselektierten Moleküle in Mischungen mit Puffergasen werden dann quantifiziert.
„Das Set-up arbeitet mit einem hohen Grad an Automatisierung, um eine systematische Auswertung von Gasgemischen zu ermöglichen und Synergieeffekte nicht zu übersehen“, erläutert Franck. Computergesteuert könnten zudem große Mengen von Parametern geprüft werden.
Die Entladungsparameter verschiedener Mischungsverhältnisse lassen sich bei variablem Druck über einen großen Feldstärkebereich messen. Franck: „So sind wir sehr flexibel in den externen Eigenschaften, mit denen wir diese Gase prüfen.“ Die Versuchsanlage – eine Vakuumkammer mit rund 40 l Inhalt, bestückt mit einem speziellen Elektrodensystem – kombiniere das Wissen aus der Vergangenheit mit den Möglichkeiten von heute.
Zum Stand der Forschungen sagt Franck: „Ich glaube daran, dass wir nicht ein einzelnes Gas finden werden, mit dem sich SF6 ersetzen lässt, sondern eine Gasmischung.“ Die Methodik zur Charakterisierung von Gasen sei komplett etabliert. Jetzt fange das ETH-Team an, systematisch passende Gasmischungen zu suchen.
Das ETH-Team untersucht auch Gase, die bisher niemand auf der Agenda hatte. „Wir machen quantenchemische Simulationen und können bestimmte Eigenschaften der Gase vorausberechnen, ob sie als klimafreundliches Schutzgas geeignet sind oder nicht.“ 10 000 verschiedene Moleküle hat die Equipe um Franck bereits durchgerechnet. „Aktuell sind wir dabei, die Top-100-Gase zu selektieren und nach bestimmten Kriterien wie Giftigkeit einzuordnen. Dieses Pre-Screening ist wichtig für neue Formulierungen.“
Eine Alternativtechnologie zu SF6-gasisolierten Schaltanlagen für den Höchstspannungsbereich gibt es bisher noch nicht auf dem Markt. Verschiedene Hersteller wie ABB oder Siemens optimieren bestehende Systeme im klassischen Bereich. Eine neue Generation gasisolierter Schaltanlagen für 420 kV hatte ABB bereits zur Hannover Messe 2012 vorgestellt. Sie gilt als umweltfreundlicher, weil die benötigte Menge an SF6-Isoliergas um 40 % gegenüber der Vorgängergeneration reduziert wurde.
Bei Siemens sagt Torsten Wolf, Pressesprecher des Bereichs Energy: „Die Frage nach SF6-Leakage stellt sich bei unseren modernen Schaltanlagen nicht, da diese über ihre Lebensdauer Leckraten von weniger als 0,1 % aufweisen.“ Bei einer erwarteten Lebensdauer von 50 Jahren müssten die Gasräume zur Wartung maximal einmal geöffnet werden. Zusätzlich werde mit dem Einsatz moderner Gaswartungsanlagen eine nahezu 100-prozentige Wiederverwendung des SF6-Gases erreicht.
ETH-Forscher Christian Franck geht davon aus, dass die Industrie in ein paar Jahren mit echten Alternativlösungen auf den Markt kommt. Firmen wie Alstom, ABB und 3M haben schon Patente zu dem Thema angemeldet.
Alstom hat eine neue Reihe von zu 100 % SF6-freien Leistungsschaltern auf Basis von Vakuumtechnologie entwickelt, als Erstes den VL109 für 72,5 kV. Diesen stellte Alstom auf der Jahrestagung 2012 des internationalen Forums auf dem Gebiet der elektrischen Energieerzeugung (CIGRE) in Paris vor.
Vakuum vereint fast perfekt Isolierung und unterbrechende Eigenschaften. „Allerdings ist die Übertragung der Vakuumtechnik von der Mittelspannung auf Hochspannungsanwendungen nicht so einfach“, sagt Lutz Drews, Forschungsmanager bei Alstom Grid. 3M wiederum hat ein Gas als Hochspannungsmedium zum Patent angemeldet, das schon länger als Feuerlöschmittel im Einsatz ist.
Franck schätzt, dass sein Team „in den kommenden Jahren“ passende Kandidaten als Gasalternative für SF6 vorschlagen kann. Dementsprechend kann er sich ein Szenario vorstellen, dass die Elektroindustrie in „zwei bis drei Jahren darauf einsteigen kann, Produkte für diese Mischkandidaten zu entwickeln“.
Franck betont dabei, dass die ETH keine geheime Forschung betreibe, sondern gezielt auch Kooperationen mit Firmen anstrebt. Bisher habe Alstom dieses Angebot angenommen. Mit weiteren Unternehmen sei man in der Diskussion. MICHAELA GEIGER