So erreichen Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland das 1,5-Grad-Ziel
Viele Wege führen nach Rom. Oder Richtung Klimaschutz gemünzt: Mit vielen ganz unterschiedlichen Stellschrauben lassen sich Klimaschutzziele wie das 1,5-Grad-Ziel erreichen. Das zeigten letzte Woche die vertiefenden Breakout-Sessions auf dem Deutschen Ingenieurtag, wo VDI-Experten mit externen Fachleuten diskutierten.
Die Industrie zeigt eine bunte Palette von Ansätzen, um CO2 zu reduzieren. Da will z. B. die chemische Industrie bis 2050 treibhausgasneutral werden. Technisch sei das möglich, vor allem wenn die Prozesse der Grundstoffindustrie, die für 75 % der von dieser Branche freigesetzten CO2-Emissionen stehe, umgerüstet würden. Vorausgesetzt natürlich, dass dann die benötigte Energie aus Ökostrom oder Wasserstoff stammt. Das ist jedoch dann eine ganze Menge – mehr als heute jährlich in Deutschland verbraucht wird.
Auf grünen Strom sind alle scharf. Auch diejenigen, die damit riesige Mengen von grünem Wasserstoff produzieren wollen. Die Schlüsseltechnologie fordert Ingenieurinnen und Ingenieure und zwingt Europa zu Kooperationen mit sonnenreicheren Ländern. Hierzulande entstehen Modellregionen wie im Chemiepark Leuna. Klimaschutz und Energiewende – zwei Herausforderungen, die in Deutschland eng miteinander verknüpft sind, wenn es gilt, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.
Energiewende digital orchestrieren
Die Energiewende muss mit digitaler Technik orchestriert werden. Darin sind sich die Experten aus dem Bereich Strom und Netze einig. Viel zu lange habe man in Deutschland gewartet. Den Durchbruch mit Smart Metern hätte man hierzulande schon vor acht Jahren haben können. Doch es gibt gerade frische Hoffnung: In den letzten Tagen habe es Riesenfortschritte in der Standardisierung durch die neue Definition von steuerbaren Smart Metern über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und das Bundeswirtschaftsministerium gegeben.
Riesiges Potenzial zur CO2-Reduktion schlummert im Wärmemarkt, auf den mehr als 50 % des Endenergiebedarfs in Deutschland entfallen. Die Bauindustrie setzt derweil auf Ressourceneffizienz und Materialrecycling – ein Schwerpunkt, dem sich auch die Kreislaufwirtschaft verschrieben hat. Die Landwirtschaft, selbst Leidtragende des Klimawandels, favorisiert Automatisierung und vernetzte Prozesse. Experten der Fahrzeugtechnik beschwören Elektrifizierung und Hybridisierung der Antriebe. Dem autonomen Fahren bescheinigen sie ein hohes Potenzial bei der CO2-Reduzierung. Regine Bönsch
Wärmemarkt: mehr Tiefengeothermie, höhere CO2-Abgaben
Vom Endenergiebedarf in Deutschland entfällt mehr als die Hälfte auf den Wärmemarkt. Und satte 85 % von diesem großen Teil des Gesamtkuchens basieren auf fossilen Energieträgern. Kurzum: Hier schlummert noch ein riesiges Potenzial, um das 1,5 °-Ziel zu erreichen. Welche konkreten Schritte dabei gegangen werden müssten, hat der VDI-Fachausschuss „Regenerative Energien“ in einem Papier dargelegt. Es ist gratis verfügbar (https://bit.ly/3viwicT).
Co-Autor Gerhard Stryi-Hipp vom Fraunhofer ISE rät beispielsweise dazu, verstärkt auf die tiefe Geothermie (Foto) zu setzen. Ihr Anteil an den regenerativen Energiequellen zur Wärmeerzeugung liege noch bei unter 1 % Dabei biete sie hohe Versorgungssicherheit bei geringem Flächenbedarf. Gleichzeitig dürften andere klimaneutrale Wärmequellen wie biogene Festbrennstoffe, Solarthermie oder Grüne Gase nicht vernachlässigt werden. Es brauche eine Vielfalt an Förderanreizen, gesteuert über Preissignale. So müsse etwa die CO2-Abgabe deutlich schneller steigen. sta
Gebäude der Zukunft: Umdenken im Bau notwendig
Wie viel Einfluss haben Ingenieure und Ingenieurinnen auf die Effizienz im Gebäudebetrieb? Ein Rechenbeispiel von Andreas Wokittel aus der Geschäftsführung des Gebäudeausrüsters Spie: 20 % der Gebäudekosten hätten mit dem Betrieb zu tun, sagt er. Davon könne die Fachkraft maximal 40 % beeinflussen. Selbst wenn davon ein Drittel der Kosten eingespart würde, lägen am Ende nicht mal 3 % Effizienz in der Hand der Fachleute. Die Technik allein sei nicht der Heilige Gral, sagt Jan Wokittel, Digitalisierungsmanager beim Pharmakonzern Hoffmann-La Roche, es brauche eine andere Denkweise. „Wir können das Problem nicht rechtzeitig aus unseren Silos herauslösen“, sagt er und fordert beim Gebäude Zusammenarbeit über Fachgrenzen, auch mit Nichttechnikern.
Der Nutzer und sein ganzheitliches Erlebnis müssen ab jetzt im Vordergrund stehen – Gebäude als Service. Um solche Geschäftsmodelle möglich zu machen, müssten Daten künftig selbst im vorsichtigen Deutschland geteilt werden, so Andreas Wokittel. „Wir brauchen offene Systeme, auch für die Ressourceneffizienz.“ Es geht ums Sparen von Energie, aber auch um das von Baustoffen. Pascal Keppler, Experte für digitale, zirkuläre Wirtschaft beim Beratungsunternehmen Epea, warb für das Konzept, Gebäude künftig direkt als Materialbank zu konzipieren. „In 1 km2 Stadt ist mehr Kupfer verbaut, als in mancher Mine lagert“, sagte er. Rohstoffe dürften nicht einfach auf der Deponie landen. Die Immobilienbranche verursacht heute 58 % des globalen Massenmüllaufkommens. kur
Industry4Climate: Wettbewerb um grünen Strom und grünen Wasserstoff
Die energieintensive Chemie ist verantwortlich für einen Großteil der CO2-Emissionen hierzulande. Dennoch will die chemische Industrie bis 2050 treibhausgasneutral werden. „Wir sind Teil des Problems, aber auch Teil der Lösungsstrategie“, ist Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), überzeugt. Mit der Plattform Chemistry4Climate soll die Treibhausgasneutralität der gesamten Branche gelingen. Technisch sei das möglich. Allerdings nur, wenn sämtliche benötigte Energie als grüner Strom bereitsteht. Sollen Prozesse in der Grundstoffindustrie, die immerhin für 75 % der in der Chemie freigesetzten Klimagase steht, umgerüstet werden, würden pro Jahr etwa 630 TWh grüner Strom benötigt – mehr als der gesamte heutige Stromverbrauch in Deutschland. Allein 471 TWh gingen für die klimaneutrale Produktion von Naphtha aus. Diese wichtigste kohlenstoffhaltige Rohstoffbasis der Chemie wird bisher aus Rohöl gewonnen. ber
Strom und Netze: Digitales statt Dunkelflaute
Harald Bradke, Vorsitzender des Interdisziplinären Gremiums Klimaschutz und Energiewende im VDI, gibt Entwarnung: „Wir laufen sicher nicht in die Gefahr einer Dunkelflaute.“ Der Experte weiß genau, dass Deutschland insgesamt mehr Strom exportiert als importiert. Das trifft sogar auf das kernenergie-dominierte Frankreich zu – im Winter brauchen die Franzosen Strom aus deutscher Windkraft, im Sommer steigt die hiesige Stromimportquote. Das europäische Verbundnetzwerk ist für Bradke ein wichtiges Hilfsmittel: „Wir brauchen uns gegenseitig. Gemeinsam können wir die Energiewende schaffen“ und damit Klimaziele erfüllen. Notstromaggregate, Biomasse, die Höchstlasten auffängt, und Speichertechnologien – von bewährten Wasserspeicher-Kraftwerken bis hin zu innovativer Wasserstofftechnik – das alles verhindere Dunkelflauten, in denen Sonnen- und Windenergie als Lieferanten versagen. Auch eine Warnung hat der Energieexperte parat: „Wir bauen zu wenig Windkraft und zu wenig Photovoltaik auf.“ Wenn das angesichts des ambitionierten Zeitrahmens für den Ausstieg aus Kern- und fossiler Energie so weitergehe, seien wir gezwungen, mehr Strom zu importieren oder Kraftwerke länger laufen zu lassen. Entscheidend: Die dezentrale Energiewende muss mit Informationstechnik orchestriert werden. Das unterstützte Heinrich Lang vom Institut für Energiedienstleistungen (Ifed). „Wir brauchen Speicher, aber auch viele regelbare Erzeuger und Verbraucher.“ Hoffnung auf steuerbare Technik und intelligente Smartmeter scheint es nun dank eines wenige Tage alten Standardisierungsbeschlusses zu geben. rb
Braunkohle: Konzepte für den Kohleausstieg
Der Braunkohleausstieg ist bereits beschlossen, der Weg dorthin ist aber längst noch nicht klar. Ulrich Michaelis, Geschäftsführer des Aachener Bezirksvereins, erinnerte in seinem Vortrag daran, dass noch immer rund 19 % des bundesweiten Strombedarfs durch Kohleverstromung gedeckt werden und 70 000 Beschäftige direkt oder indirekt von der Förderung leben. Mit dem Ziel, den Austausch zwischen den acht vom Strukturwandel betroffenen Bezirksvereinen zu fördern, hat sich der VDI-Dialog „Innovativer Braunkohleausstieg“ gebildet. Das bundesweite Forum lädt Referenten zu Themen wie „Veränderung der regionalen Wasserbilanz“ oder „Neuorientierung der Bergbauzulieferer“ ein. Unter den vielen Vortragenden aus den Bezirksvereinen, die von der Lage in ihren jeweiligen Bezirken berichteten, ist auch Christof Günther, Geschäftsführer der Infraleuna GmbH, die den Chemiepark Leuna verwaltet. Er schilderte die dortigen Bemühungen, den traditionsreichen Standort zur Modellregion für grüne Wasserstofferzeugung zu entwickeln. Linde baue derzeit einen Elektrolyseur mit einer Leistung von 24 MW in Leuna. „Das entspricht der Leistung aller Elektrolyseanlagen in Deutschland in Summe“, so Günther über das Leuchtturmprojekt. aw
Life Sciences: Pflanzen mit Automation nachhaltiger produzieren
Die Automatisierung der Landtechnik wird bis 2030 weiter an Bedeutung gewinnen, davon geht der VDI-Fachbereich Max-Eyth-Gesellschaft Agrartechnik (VDI-MEG) aus. „Automatisierung hat das Ziel höchster Präzision“, erklärte Peter Pickel. Er ist einer der Autoren der Forschungsagenda „Agriculture Technology 2030 – Part 1: Sustainable Plant Production“. Pickel wies darauf hin, dass in der Landwirtschaft mehr Treibhausgase in Form von Methan aus der Tierhaltung oder durch den Düngemitteleinsatz entstünden als durch die Motoren der Landmaschinen. Gleichzeitig leide die Landwirtschaft mehr als andere Branchen unter dem Klimawandel. Das Motto lautet für Pickel deshalb: „Mehr mit weniger produzieren“. Durch die gezielte Bewirtschaftung von Flächen müsse weniger gedüngt werden und der Herbizideinsatz lasse sich durch eine automatisierte Erkennung von Beikräutern und neue Verfahren um 90 % bis 95 % reduzieren. Möglich werde das u. a. durch eine stärkere Elektrifizierung der Maschinen. Die Automatisierung und vernetzten Prozesse haben einen weiteren Vorteil: Damit lässt sich die gesamte Prozesskette vom Feld bis in den Handel transparent gestalten. ciu
Sektorkopplung & Power-to-X (PtX): „Speicher haben wir“
Grüner Wasserstoff: Der Run auf den Wasserstoff
Das leichte Molekül könnte bald nur noch schwer zu bekommen sein: In Europa steigt die Nachfrage nach grünem Wasserstoff – erzeugt aus regenerativen Energiequellen – in vielen Szenarien exponentiell an. Über 6 GW im Jahr 2024 und 40 GW (2030), so die Projektionen der EU, könnte sie im Jahr 2050 bis zu 500 GW erreichen. Die Schlüsseltechnologie ist die strombasierte Produktion des Wasserstoffs per Elektrolyse. Drei Typen von Elektrolyseuren wird großes Potenzial bescheinigt: der bereits erprobten Alkali- und der PEM-Elektrolyse – beide spalten flüssiges Wasser – und der dampfbasierten Hochtemperaturelektrolyse. Die Herausforderung sehen viele nun darin, die Anlagen hoch zu skalieren. Beispiel PEM: Aktuelle Großanlagen erreichen 6 MW und mehr, das erklärte Ziel ist der GW-Maßstab.
Grüner Wasserstoff ist auf Solarstrom angewiesen – und auf Flächen, die es vermutlich in Europa nicht geben wird. Deshalb stoßen einzelne Staaten, auch Deutschland, aktuell Partnerschaften mit Ländern wie Chile und Algerien an. Die Idee: Der Wasserstoff wird verflüssigt und per Schiff nach Deutschland transportiert – ähnlich wie beim flüssigen Erdgas (LNG).
Die Wasserstoffelektrolyse verbraucht vor Ort enorme Ressourcen: Strom, Wasser und Flächen. Auf dem DIT wurden Forderungen laut, dass sich die Elektrolyse von extraktivistischen Mustern der Steinkohlen- und Erzproduktion abheben soll. „Der Benefit muss Energie sein, die auch die Lieferländer nutzen können“, sagte der Chemiker Michael Fröba von der Universität Hamburg. har
Circular Economy: Intelligentes Faserrecycling
Im Automobilbau und bei Windkraftanlagen sind Verbund- und Hybridwerkstoffe aufgrund hoher Festigkeit und Steifigkeit bei relativ leichtem Gewicht gefragt. Doch das Recycling von energiesparenden Leichtbaumaterialien ist problematisch. „Als Ingenieure und Ingenieurinnen haben wir die Aufgabe, Abfälle aus der Produktion oder am Lebensende umweltverträglich zu beseitigen“, sagt Jonas Hüther, Abteilungsleiter Circular Economy an der TU Dortmund. Bei faserverstärkten Kunststoffen geht das Recycling meist mit einem Qualitätsverlust einher. So nimmt dabei die Festigkeit von Carbonfasern ab. Zudem ist die Prozesstechnik auf Neufasern ausgelegt. Es braucht also neue Verfahren, um das Stückwerk recycelter Fasern verarbeiten zu können. Möglich wäre das mit Spritzgießverfahren, bei denen die Kurzfasern als Füllstoff eingesetzt werden. Oder sie werden mithilfe zusätzlicher Kunststofffasern zu einem neuen Endlosgarn gesponnen. ber
Future Mobility: Technologieoffenheit bei der Antriebswahl
Die Zukunft der Mobilität ist elektrisch – der Weg dorthin muss technologieoffen diskutiert und gestaltet werden. Darin waren sich Lutz Eckstein, Leiter des Instituts für Kraftfahrzeuge (ika) an der RWTH Aachen, und Alexander Bloch, Chefreporter bei „Auto Motor und Sport“ einig. Wasserstoff in Verbrennungsmotoren, Brennstoffzellen und dekarbonisierte Kraftstoffe sollen anwendungsspezifisch betrachtet werden. Auch die Hybridisierung der Antriebe macht laut Bloch Sinn, denn so würden jene allmählich an die Elektrifizierung herangeführt, die ihr bisher skeptisch gegenüberstanden: „Elektrifizierte Auto können Spaß machen, allein wenn man die Beschleunigung betrachtet.“ Sein Credo: Man müsse die Menschen in ihren Realitäten abholen – und die seien nun mal mehrheitlich beim Verbrennungsmotor angesiedelt. Beide Experten waren sich auch beim automatisierten und autonomen Fahren einig – sie seien wesentliche Bestandteile, um die Verkehrssicherheit zu verbessern und den Verkehrsfluss zu fördern. Vor allem dem autonomen Fahren bescheinigen sie ein hohes Potenzial bei der CO2-Reduzierung. Lutz Eckstein mahnt aber an, Gas zu geben – sowohl bei der Weiterentwicklung der automatisierten Systeme als auch beim Ausbau der Infrastrukturen für die alternativen Kraftstoffe und der Ladenetze. pek