Unter Wasser
Christian Melchers geht mit großen Schritten voran. „Im Gelände lernt man am meisten“, sagt der Hydrogeologe aus Bochum mit der forstgrünen Cordhose. Schließlich hört man auf dem felsigen Höhenzug über dem Ruhrtal in Essen ein Plätschern. Aus einem Mundloch im Gestein gibt hier der alte Erbstollen der ehemaligen Zeche Pauline sein Grubenwasser frei. Ein Bächlein, sehr munter und rostrot. Die Farbe komme vom Pyrit, einer Eisen-Schwefelverbindung im Karbon, die mit dem Sauerstoff in der Grube oxidiere, erklärt Melchers. Die Konzentration sei aber umweltverträglich.
„Wir haben hier 3 mg Eisen pro Liter gemessen“, weiß der Professor für Geoingenieurwesen und Nachbergbau an der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum. Hier im Süden des Ruhrgebiets, wo die Karbonschicht bis an die Tagesoberfläche reicht, habe der Steinkohlebergbau im Revier vor rund 200 Jahren als sogenannter Pingenbau begonnen. „Die konnten hier quasi die Hand auf die Kohle legen.“
Der Bergbau in geringer Tiefe kam ohne Pumpen aus. Um die Grubengebäude vor eindringendem Wasser zu schützen, legte man tiefer gelegene Stollen an – „eine Art Bypass zum Flöz“. Sie wirken noch heute wie eine Dränage für natürlich versickertes Regenwasser, aus dem sich das geringer mineralisierte, süße Grundwasser speist. „Aber in dem Moment, in dem das Grundwasser in dieses Grubensystem hineinfließt, ist es Grubenwasser“, sagt Melchers.
Die Bochumer machen erstmals eine Bestandsaufnahme der Erbstollen im Ruhrgebiet und analysieren die Wassermengen und -qualitäten. Über 100 Stollen hat der Forscher inzwischen befahren, über 60 beprobt. Sein Fazit: Das Wasser enthalte weder Schwermetalle noch Arsen. „Was hier rauskommt, ist chemisch unbedenklich.“
Im braunen SUV geht es nach Bochum. Melchers‘ Büro hinter der frisch restaurierten Backsteinfassade der Technischen Hochschule ist schmucklos. Seine Doktorarbeit über natürliche Methanvorkommen im Münsterland hat den gebürtigen Lünener damals auf die Kohle gebracht. Heute brennt sein Herz für den Nachbergbau. „Wir wollen hier das intellektuelle Erbe bewahren.“ 60 angehende Geoingenieure bilden die Bochumer zurzeit aus. Melchers weiß: „Wir brauchen auch in 50 Jahren noch jemanden, der in der Lage ist, einen bergmännischen Riss zu lesen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.“
Rund 150 Jahre industrieller Steinkohlebergbau haben in der Region tiefe Spuren hinterlassen. Die öffentlichen Diskussionen um Bruch-Hohlraumverfüllung, Grubenwasseranstiege, Schadstoffausträge und PCB würden heute viel zu emotional ausgetragen, ärgert sich der Professor. „Dass da Auswirkungen und Risiken sind, darf man nicht negieren, aber man muss die mit Sachverstand angehen. Daran arbeiten wir.“
In einem groß angelegten Forschungsprojekt wollen die Bochumer auch bereits erfolgte Grubenwasseranstiege in Deutschland und Europa erstmals systematisch unter die Lupe nehmen. „Wir wollen herausfinden, welches Grubenwasserniveau perspektivisch nachhaltig ist, und einen Bewertungsschlüssel für die Risiken entwickeln.“ Es gebe auch schon erste Ergebnisse, erzählt der Hochschullehrer und wirft mit ein paar Strichen ein Grubensystem mit tiefer liegendem Sammelbecken, dem Pumpensumpf, aufs Papier. „Wir sehen, dass ein Grubenwasseranstieg anfangs ziemlich schnell verläuft, und dann immer flacher wird“, erklärt Melchers. „Je mehr ich den Spiegel ansteigen lasse, desto geringer wird das hydraulische Potenzial, also das Bestreben des Wassers, weiter ansteigen zu wollen.“ Pumpen sei auf Dauer keine Lösung, glaubt der Forscher.
Im weißen Habit eines Steigers mit blauweißem Grubenhemd und Halstuch steht Markus Roth am Förderturm. Es soll tief hinab gehen. Der Bereichsleiter Grubenwasserhaltung Planung der Ruhrkohle AG hat sein Revier normalerweise über Tage. Er arbeitet am Konzept, das die Grubenwasserhaltung im Ruhrgebiet fit für die Ewigkeit machen soll. Hier in den alten Tagesanlagen der ehemaligen Zeche Pluto in Herne arbeitet er Tür an Tür mit der zentralen Leitstelle. Im dämmrigen Tageslicht sitzen Mitarbeiter vor großen Monitoren und haben die Daten von elf Standorten im Blick. „Alles gut?“, fragt Roth. „Alles gut“, brummt es aus dem Halbdunkel.
Im Ruhrgebiet steht die Wasserhaltung vor dem wohl größten Umbruch ihrer Geschichte. Ende 2018 läuft in Deutschland der subventionierte Steinkohlebergbau aus. Dann werden die Zeche Ibbenbühren im Münsterland und die letzte Zeche im Ruhrgebiet, Prosper Haniel in Bottrop, planmäßig die Tore schließen. Ab 2019 wird die eigens dafür gegründete RAG-Stiftung die Finanzierung der Grubenwasserhaltung als eine der großen Ewigkeitsaufgaben nach dem industriellen Bergbau übernehmen. Das Wasser aus den Gruben soll auch künftig auf kontrollierten Wegen fließen. Um es zu sammeln, will man den Spiegel ansteigen lassen und tiefe Stollen fluten. Die Infrastruktur wird auf acht zentrale Standorte verdichtet, sechs davon im Ruhrgebiet.
Für die Sammlung des Grubenwassers wird man vor allem das Streckennetz unter Tage nutzen. Rund 66 Mio. m3 Grubenwasser hat die RAG 2016 im Ruhrgebiet gehoben. Roth: „Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Wir rechnen hier langfristig mit 90 Mio. m3.“ Der Geologe zeigt an einem der Monitore noch schnell die aktuellen Daten der zentralen Grubenwasserhaltung der Zeche Zollverein. „Hier sind zwei Pumpen planmäßig in Betrieb.“
Der schmale Förderkorb am Schacht 12 der Zeche Zollverein lässt sich Zeit für die Seilfahrt in die Tiefe. „Wir schaffen 2 m pro Sekunde“, weiß Markus Wächter, der als Hauer auch die Spurführung des Förderkorbs wartet. Bis zur Endteufe sind es 1000 m. Die umgehängte Grubenlampe wirft Lichtkegel durch den stählernen Käfig. Draußen ziehen gemauerte Ziegel alter Sohlen und roher Fels vorbei. Am Ende setzt der stählerne Käfig ganz sacht auf der 14. Sohle auf und öffnet sich in eine monochrome Welt in Sandsteinbraun.
Ein Stahlgerüst spannt das Gewölbe mit einem Querschnitt von etwa 6 m auf. Betonverputzte Abschnitte und Fangkörbe sichern die Strecke gegen Steinschlag. 300 m lang geht es vorbei an vermauerten Nebenstrecken. Sie dienen heute als Wasserdämme, aus denen dicke Rohre laufen. Im Rücken bläst ein frischer Wind. „Wir sind hier in einem einziehenden Schacht“, erklärt Roth. „Hier wird zur Bewetterung Frischluft angesaugt.“ An einer Stelle unter dem Gewölbe sind wassergefüllte Kunststoffcontainer angebracht. Sie sollen im Falle einer Explosion das Feuer löschen.
Kurz hinter Wasserdamm 512, an dem das Grubenwasser auf Zollverein zentral zusammenfließt, kommt die Pumpenkammer in Sicht. Von den installierten vier Vor- und sechs Hauptpumpen sind zwei in Betrieb und erfüllen die Kammer mit lautem Dröhnen. Im Innern der Horizontalkreiselpumpen bauen Schaufelräder den Wasserdruck auf: Über das Doppelsystem wird der notwendige Druck aufgebaut, der das Grubenwasser aus dem Schacht über eine Steigleitung bis an die Erdoberfläche und in die ableitenden Rohre pumpt.
Das Wasser ist in dieser Tiefe stark mineralisiert. „Wir haben hier eine Art Nordseewasser“, sagt Roth verschmitzt. Da das Grubenwasser auch zur Kühlung der Pumpen verwendet wird, setzen sich außen an den Pumpenwellen regelmäßig Salze ab. Timo Rebischke ist in der sonst menschenleeren Pumpenkammer gerade dabei, die Verkrustungen zu entfernen. Der 26-jährige Industriemechaniker arbeitet gern unter Tage. „Wir haben hier eine besondere Kameradschaft.“
7 Mio. m3 Grubenwasser wurden 2016 in Essen gehoben und in die Emscher eingeleitet. Mit der Einleitung in den Nebenfluss des Rheins soll es aber bald vorbei sein. „Wir ziehen die Emscher bis 2020 frei“, sagt der RAG-Experte. Das über Jahrzehnte stark belastete Gewässer soll sich in den nächsten Jahren wieder völlig erholen (s. VDI nachrichten Nr. 24/16). „Eine Renaturierung der Emscher ohne unser Grubenwasserkonzept ginge nicht.“
Das Grubenwasser von Zollverein, das heute schon die Wässer umliegender Zechenstandorte mitführt, soll ab 2020 untertägig nach Dinslaken Lohberg im Nordwesten des Ruhrgebiets fließen und von hier aus weiter in den Rhein geleitet werden. Dazu muss der Wasserspiegel in Essen noch kräftig ansteigen. „Stellen Sie sich vor, dass sich einzelne Badewannen über Röhren miteinander verbinden“, veranschaulicht Roth. „Dann muss ich in den Wannen ein gewisses Niveau und einen Vordruck für den Durchfluss aufbauen.“ Langfristig soll das mittlere Niveau des Grubenwassers im Ruhrgebiet in den nächsten Jahren von heute 900 m auf 600 m ansteigen und so ausreichend Abstand vom oberen Grundwasser halten.
Die Pumpen, die Mechaniker Rebischke gerade wartet, werden dazu abgeschaltet. Für den geplanten Anstieg werde das Wasser dann Jahre brauchen, glaubt Roth. „Wasser ist faul“, lacht der Hydrogeologe. Und das sei gut so: „Je mehr Ruhe ich in das System bringe, je geringer die Fließgeschwindigkeit ist, desto weniger Feststoffe gelangen nach oben.“ Vorhandenes PCB und andere Schadstoffe würden so an den Feststoffen sedimentieren.
Aber auch das neue Grubenwasserkonzept der RAG kommt nicht ohne Pumpen aus. Statt der bisherigen Maschinen sollen künftig Tauchmotorkreiselpumpen das Grubenwasser von oben ansaugen. „Das kann man sich wie einen Gartenbrunnen vorstellen, wo ich eine Pumpe reinhänge“, erklärt Roth. Man nutzt dazu vorhandene Schächte und setzt Hüllrohre ein. Der zentrale Standort Walsum ist heute schon auf die neue Technik umgestellt.
Zeit für den Rückweg und die Schutzbrille, jetzt kommt der kräftige Wind von vorn. Am Förderkorb fällt ein letzter Blick zurück. In ein paar Jahren wird hier alles unter Wasser stehen. Hauer Wächter ist im Förderkorb wieder mit von der Partie. Sein Arbeitsplatz liegt seit 20 Jahren unter Tage: „Einfach war die Arbeit im Bergbau nie. Entweder man mag es oder man mag es nicht.“
Oben ragt der berühmte Doppelbock-Förderturm des Weltkulturerbes Zeche Zollverein majestätisch in den grauen Dezemberhimmel. Kohle wird hier schon seit 1986 nicht mehr gefördert. In zwei Jahren kommt im Ruhrgebiet der große Zapfenstreich. Bereichsleiter Roth bleibt tapfer. „Reduziert und verkleinert haben wir uns permanent. Jetzt bringen wir es zu Ende.“ rb