Unternehmen zeigen mehr Sensibilität für Klimaneutralität
Die Rolle der Energieeffizienz in der Industrie sowie aktuelle Herausforderungen verdeutlicht Alexander Sauer, Institutsleiter an der Universität Stuttgart.
VDI nachrichten: Vor Corona war Klimaneutralität ein riesiges Thema, das selbst die Europäische Kommission ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Wie sieht es jetzt mit den Bestrebungen nach höherer Energieeffizienz in der Produktion aus?
Sauer: Insgesamt ziemlich gut. Auf jeden Fall nicht schlechter als vor der Corona-Krise. Wir haben Pressetexte der vergangenen Monate mit Berichten von Ende 2019 verglichen. Während Ende vergangenen Jahres noch oft geschrieben wurde, dass Unternehmen den Klimawandel verpassen, sind nun wesentlich positivere Beiträge zu lesen, z. B. von Unternehmen, die was tun oder konkrete Ziele dafür vorstellen. Das heißt für mich: Es ist bei den Unternehmen mehr Sensibilität für Klimaneutralität vorhanden und somit auch für Energieeffizienz – weil das ja eine wichtige Maßnahme dafür ist.
In Ihrem Energieeffizienzindex EEI von Juli 2020 wird deutlich, dass große Unternehmen ihre Maßnahmen zur Energieeffizienz im Rahmen der Covid-19-Pandemie stärker ausgeweitet haben als kleinere. Wie erklären Sie sich das?
Das liegt zum einen daran, dass die Unternehmen umso langfristiger planen je größer sie sind. Sie konzentrieren sich also schon früher auf sich abzeichnende Entwicklungen. Das trifft übrigens auch auf größere Zulieferer zu. Wenn sie merken, dass sich die OEM klimaneutral aufstellen, dann stellen sie sich darauf ein, dass diese Nachhaltigkeit künftig auch bei der Auftragsvergabe mitbewertet werden.
Kleine Unternehmen setzen aktuell vielleicht andere Prioritäten. Aber: Kleinere Unternehmen sind oft flexibler und agiler, sodass sie auch noch später reagieren können. Manche warten deshalb umso länger ab, was tatsächlich kommt.
Massiver Schub in den nächsten fünf Jahren
Bis wann wollen Unternehmen Klimaneutralität erreichen?
In unseren Befragungen sieht man eindeutig, dass da in den nächsten fünf Jahren ein massiver Schub in den Unternehmen passiert, der aus unserer Sicht auch von der Politik genutzt und unterstützt werden sollte. Wir haben ausgerechnet, dass etwa die Hälfte der Dekarbonisierungsaktivitäten der nächsten 30 Jahre, nach unserer letzten Erhebung, in den nächsten fünf Jahren stattfinden werden. Da haben wir gerade eine sehr starke Dynamik.
Wie bewerten Sie die Idee, Maßnahmen der Bundesregierung und der Europäischen Union zur Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Corona-Pandemie mit Klimaschutzzielen zu verknüpfen?
Es macht Sinn, das in Einklang zu bringen. Das sieht man ja nicht nur beim Bund, sondern auch bei vielen Länderprogrammen. Auf der einen Seite bietet es Potenzial für die ganze Effizienzbranche, dadurch auch verstärkt Aufträge zu bekommen. Andererseits muss man das nicht übertreiben. Eine gewisse Orientierung ist aber gut, vor allem mit Blick auf die Ausrichtung der künftigen Geschäftsmodelle an umweltschonenderen Verhaltensweisen. Gleichzeitig sollten Unternehmen durch Sofort- und Nothilfen auch ohne eine solche Zweckbindung unterstützt werden können.
Laut Ihrem aktuellen EEI stehen bei den Investitionen für die befragten Unternehmen langfristige wirtschaftliche Vorteile im Vordergrund. Können Sie Beispiele nennen, in welchem Rahmen sich die Amortisationszeiten für Energieeffizienztechnologien in der Produktion üblicherweise bewegen?
Bisher wurde bei Rationalisierungsmaßnahmen gerne ein Jahr dafür angesetzt. Das verschiebt sich aber zunehmend. Bei Effizienzinvestitionen hat es sich sogar schon in Richtung drei Jahre verschoben. Alles bis zu drei Jahren wird hier als gute Investition angesehen. Mittlerweile höre ich aber auch immer öfter, dass bis zu fünf Jahre für Effizienzinvestitionen akzeptiert werden.
CO2-Bepreisung erhöht die Planungssicherheit
Lässt sich das begründen?
Ich glaube, dass sich durch den Beschluss CO2 im Wärme- und Mobilitätsbereich zu bepreisen, für Effizienzinvestitionen insbesondere im Nichtstromsektor eine erhöhte Planungssicherheit ergibt. Damit wird auch die Wirtschaftlichkeit in Zukunft verbessert. Von daher sehe ich, dass viele Unternehmen daran glauben, dass sich ihre Investitionen in CO2-behafteten Prozessen amortisieren werden und nicht z. B. durch einen sinkenden Gaspreis ins Unendliche schießen.
Wenn große Unternehmen davon sprechen, bald klimaneutral zu sein, dann geht das nicht von heute auf morgen. Welche Meilensteine gibt es für Sie dabei?
Es gibt eigentlich immer die gleichen Maßnahmenpakete, die werden aber durchaus unterschiedlich gewichtet. Ein Maßnahmenbündel, das immer auftaucht, ist die Energieeffizienzsteigerung und damit die Reduzierung des absoluten Verbrauchs. Wenn man sich das Ganze bezogen auf die Bilanzhülle Deutschlands anschaut, ist das auch sehr wichtig. Denn ohne Effizienzsteigerungen werden wir die ganzen Energien, die wir benötigen, im Inland gar nicht so schnell zusammen bekommen. Wenn wir auf Importe gehen, dann wird das auch länger dauern.
Auf Effizienz folgt in der Regel lokale Eigenerzeugung
Was ist neben der Energieeffizienz nötig?
Der Effizienz folgt in der Regel die lokale Eigenerzeugung. Das bedeutet für die meisten im Wesentlichen Photovoltaik, also PV. Eine Alternative ist es, biobasierte Energieträger zu nutzen, wie z. B. Biogas. Dann folgt der Bezug erneuerbarer Energien, also der Einkauf von Grünstrom, aber auch die zusätzliche Errichtung und Finanzierung von Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien im Land.
Die letztmögliche Maßnahme ist dann die Kompensation von nicht vermeidbaren Emissionen. Die können natürlich weiterhin z. B. durch den eigenen Gasverbrauch zur Wärmeerzeugung vor Ort entstehen oder auch in Form von Prozessgasen.
Da gibt es viele Programme, zu denen man unterschiedlicher Meinung sein kann. Was ich aber mitbekomme ist, dass sich die Unternehmen nicht leichtfertig irgendwelche Zertifikate kaufen, sondern das möglichst bedacht und zielgerichtet machen. Sie bevorzugen Zertifikate, die auch wirklich zu einer Emissionsminderung führen.
Für welche Unternehmen kommt die Finanzierung von größeren Anlagen zur Erzeugung grüner Energie überhaupt infrage?
Das können natürlich eher die größeren Unternehmen machen. Der Schreiner um die Ecke wird sich sicher nicht unbedingt an einem Windpark beteiligen, von dem er dann vielleicht seinen Strom beziehen kann. Der wird vermutlich eher erneuerbare Energien selbst erzeugen und direkt nutzen oder Grünstrom einkaufen.
Bosch sagt es sehr deutlich: Sie wissen, dass der Grünstrom nicht für alle reichen wird, wenn alle nur noch Grünstrom einkaufen würden. Das Unternehmen engagiert sich deshalb auch für den Aufbau zusätzlicher erneuerbarer Energien, die am eigenen Standort nicht mehr aufgebaut werden können, weil ja irgendwann die Dächer mit PV-Anlagen zugebaut sind.
Richtiges Marktdesign sorgt für Flexibilität
Gerade wenn Energie aus erneuerbaren Ressourcen kommt, wird die Netzstabilität zum entscheidenden Thema. Was müssen Produktionsunternehmen in der Hinsicht beachten?
Ich glaube, dass wir da technisch schon sehr viele Möglichkeiten haben und wir entwickeln noch weitere Innovationen. Dreh- und Angelpunkt ist aber das Marktdesign. Wenn das Marktdesign nicht stimmt, dann wird sich niemand die Bürde auferlegen, sich flexibel zu verhalten, um irgendeiner dritten Entität zu dienen. Insofern muss sich die Flexibilität auch für die Unternehmen selbst lohnen. Das geht nur über entsprechende Marktregeln. Denn viele Firmen könnten das durch zusätzliche Maßnahmen, die technisch bereits handhabbar sind.
Wie kann das konkret aussehen?
Das können Anpassungen bei der Auftragsreihenfolge sein oder die Speicherung von Energie. Da kann die Industrie bis zu einer Spanne von 7 GW zur Flexibilität beitragen. Das haben wir in unserem Kopernikus-Projekt SynErgie gezeigt und in einem Buch zur Energieflexibilität auch veröffentlicht. Dabei haben wir noch nicht einmal alles untersucht und arbeiten bereits an weiteren Maßnahmen.
Also Flexibilität ist in der Industrie da. Aber momentan würde deren Nutzung vielen Unternehmen eher schaden als nutzen.
Netzentgeltsystematik muss sich ändern
Wieso schadet Energieflexibilität den Unternehmen aktuell eher?
Sie schadet insofern, dass gerade große Unternehmen bzw. große Energieverbraucher dafür belohnt werden, dass sie im Jahr möglichst viele Stunden die gleiche Leistung aus dem Netz abnehmen. Dann sinken die Netzentgelte. Die Netzentgeltsystematik regelt das so.
Wenn ich mich also vielleicht eine Viertelstunde netzdienlich verhalte und Strom am Markt einkaufe, wenn es gerade einen Überschuss gibt, dann kann das zu einer deutlichen Erhöhung der Netzentgelte führen. So billig kann die zusätzlich aufgenommene Energie dann gar nicht sein, dass sie den negativen Netzgelteffekt überwiegt. Das muss sich also ändern.
Wie sieht es mit den technischen Lösungen konkret aus?
Zum einen gibt es Maßnahmen wie die Verschiebung von Produktionszeiten und die Taktung von Aufträgen, damit die energieintensiven Aufträge dann bearbeitet werden, wenn voraussichtlich viel Energie erzeugt wird. Das erscheint zunächst sehr aufwendig. In vielen Fällen geht es aber und stellt sich als einfacher heraus als erwartet. Als ehemaliger Produktionsleiter sage ich aber, dass ich die Energieflexibilitätsmaßnahmen in der Fabrik gar nicht merken darf. Sonst lenken sie mich von meinen Hauptaufgaben ab. Das heißt, wir brauchen dafür Automatisierung, die im Hintergrund läuft.
Können Sie bitte Beispiele dafür nennen?
Es gibt einige Ansätze für hybride bzw. bivalente Anlagen. Wenn ich beispielsweise Druckluft oder Kälte erzeuge, kann ich Anlagen installieren, die sowohl mit Strom als auch Erdgas oder perspektivisch mit Wasserstoff oder Synthese- bzw. Biogas funktionieren.
Diese Anlagen schalten dann automatisch zwischen Strom und dem Betrieb mit einem alternativen Energieträger um. Als Nutzer merke ich das überhaupt nicht. Das geht aber auch bei Schmelzöfen oder Härteöfen – also insbesondere bei Wärme- und Kälteprozessen. Ich kann natürlich auch – und das ist eine neue Denkweise – neue Nebenprozesse im Unternehmen etablieren. Im Allgäu gibt es z. B. eine Firma, die ihr eigenes Prozessgas am Standort erzeugt – in diesem Fall Stickstoff. Das passiert immer dann, wenn Energieüberschuss gegeben ist.
Die Luftzerlegungsanlage nutzt den sogenannten Überschussstrom. Der Stickstoff lässt sich wiederum wunderbar speichern. Die Firma weiß, wie viel Stickstoff sie in der Woche etwa braucht und sieht zu, dass sie den mit der fluktuierenden Energiebereitstellung auffüllt.
Ein anderes Beispiel ist die Entsalzung von Wasser. Auch die kann entsprechend der verfügbaren Energie vorgenommen werden. Das sind alles Prozesse, die früher nicht am Standort waren. So etwas wurde eingekauft. Wenn ich das nun vor Ort erzeuge, dann brauche ich zwar die Anlage, kann aber lokal die Volatilität mit einem solchen Nebenprozess wunderbar steuern.
Damit können also auch Transporte eingespart werden?
Ja. Wenn wir über die Reorganisation von Lieferketten und Insourcing sprechen, dann bekommt die Energieeffizienz dadurch auch eine neue Dynamik. Transport wird in Zukunft teurer. Auch Grenzübergangszeiten sind immer wieder ein Thema. Das bringt Unternehmen zum Nachdenken, wieder Prozesse ins Unternehmen zu holen.
Industrie 4.0 ist Voraussetzung
Inwiefern kann die Vernetzung der Produktion zur Steigerung der Energieflexibilität beitragen?
Wir brauchen da natürlich eine gewisse IT-Infrastruktur. Grundsätzlich sind Technologien von Industrie 4.0 die Voraussetzung dafür, dass das funktionieren kann. Auf der einen Seite muss das Unternehmen im Hintergrund seinen eigenen Fahrplan entwickeln, also Vorhersagen für den eigenen Energieverbrauch.
Dann kann es sehen, wo es seine Energie dafür künftig günstig beziehen kann bzw. ob es Flexibilitätsbedarf im Markt gibt, den es bedienen kann.
Dafür muss ich meine Prozesse kennen und deren Echtzeitzustände, also welcher Auftrag läuft gerade und ab wann kann ich Flexibilität zur Verfügung stellen. Denn, anders als bei einem Kraftwerk, geht es nicht nur darum, die Anlage hoch- und runterfahren. In der Fabrik habe ich eine Vielzahl an Prozessen, die ich unterschiedlich kombinieren kann. So kann ich unterschiedliche Flexibilitätsprodukte am Markt anbieten. Das ist ohne hochgradige Automatisierung nicht möglich.
An was denken Sie da konkret?
Ich brauche so etwas wie maschinelles Lernen im Hintergrund, wo Algorithmen über statistische Erhebungen meinen Energiebedarf möglichst genau prognostizieren. Ich brauche viel mehr Energiesensorik in der Produktion, damit ich den Verbrauch erfassen kann. Ich brauche Anbindungen und letztlich auch Cloudtechnologien, damit ich zwischen Unternehmensenergiesystemen und den Energiemarktsystemen kommunizieren kann.
Auf der einen Seite möchte ich dazu als Unternehmen eine Transparenz über meine Flexibilitäten haben. Auf der anderen Seite möchte ich aber nicht, dass Wettbewerber meine Flexibilität im Markt analysieren können und dadurch Rückschlüsse auf meine Auslastung ziehen. Ich brauche dafür also gewisse Schutzbereiche. Gleichzeitig muss der Handel automatisiert erfolgen. Da passiert bereits viel über Plattformen. Insofern spielen Cloudtechnologien hier eine große Rolle für die Datenverfügbarkeit und den Durchgriff auf die Anlagen. Ich muss aber auch sicherstellen können, dass das Abschalten einer Anlage sicher funktioniert, wenn ich Energieflexibilität brauche.
Was ist jetzt noch wichtig?
Erneuerbare werden mehr im Netz und wir haben viel mehr Effizienztechnologien in den Firmen. Da gibt es drehzahlgeregelte Motoren und ähnliches. Daher müssen wir uns aber auch stärker mit der Netzqualität beschäftigen. Dafür gibt es den Indikator SAIDI. Darin werden die Ausfälle unseres Netzes ab drei Minuten erfasst. Am Anfang hieß es, je mehr Erneuerbare wir im Netz haben, desto instabiler wird das Netz und desto mehr Ausfälle gibt es. Tatsächlich sind die Netzausfälle mit dem Hochlauf der Erneuerbaren in Deutschland deutlich gesunken.
Das war erst einmal kontraintuitiv und hat die Hypothese von vielen widerlegt. Möglich wurde dies durch eine deutlich erhöhte Anzahl an Netzeingriffen.
Das klingt nach einem Erfolg?
Richtig, der SAIDI zeigt aber nicht alle relevanten Auswirkungen von erneuerbaren Energien im Netz auf die Prozesse der Unternehmen. Ein Beispiel: Wenn der Radiowecker zu Hause mal weniger als drei Minuten keinen Strom hat, besitzt er hoffentlich eine interne Batterie, mit der sich das überbrücken lässt. Wenn ein Industriebetrieb mal 200 ms keinen Strom hat, dann kann es sein, dass große Teile einer Fabrik stehen, Ausschuss produziert wird und dann alles wieder hochgefahren werden muss. Diese 200 ms werden in dem Index nicht erfasst. Wir haben aber in den letzten Jahren gesehen, dass die Kurzzeitausfälle und Flicker im Stromsystem zunehmen, wodurch wir mehr Probleme in den Unternehmensnetzen haben.
Wie kann die Industrie das Problem in den Griff bekommen?
Dafür entwickeln wir bereits seit ein paar Jahren mit einem großen Konsortium in der Initiative DC-Industrie die Gleichstromversorgung weiter, die vor 125 Jahren mal in den USA abgeschrieben wurde. Die DC-Technologie kann die aktuellen Nachteile in einem auf erneuerbaren Energien basierenden Stromsystem mit hocheffizienten Lösungen im Unternehmen beheben.
Die DC-Technologie ist in der breiten Industrieanwendung jetzt noch relativ neu. Sie wird aber in den nächsten fünf Jahren stark an Verbreitung gewinnen, sobald die Komponenten in Serie gegangen sind.
Das ist eine Querschnitttechnologie, die bei vielen bisher noch nicht so auf der Agenda steht. Es wird sehr viel über Hochtemperaturwärmepumpen und intelligente Antriebstechnik gesprochen – von energieeffizienter Beleuchtung reden wir schon nicht mehr. Das Thema Gleichstrom verbindet alle Technologien auf effiziente Weise. Hier sind wir noch in einem frühen Stadium, aber die nötigen Komponenten werden nach und nach kommen.