„Wer nicht übt, kommt aus dem Tritt“
Thomas Herlitzius, Leiter des Lehrstuhls für Agrarsystemtechnik an der TU Dresden, über die Digitalisierungstrends in der Landwirtschaft.
VDI nachrichten: Landwirte stehen vor immer größeren Herausforderungen: Auslastung der immer größeren und teuren Maschinen, Verbrauchs- und Emissionsoptimierung oder Bodenverdichtung durch Vorderachslasten von bis zu 25 t. Welche Lösungswege kann moderne Landwirtschaftstechnik bieten?
ist seit 2016 Direktor des neugegründeten Instituts für Naturstofftechnik an der TU Dresden.
ist seit 2007 Inhaber der Professur für Agrarsystemtechnik der TU Dresden.
Seit 2008 leitet der promovierte Maschinenbauingenieur zudem den wissenschaftlichen Beirat des Leibniz Institutes Agrartechnik in Potsdam.
Herlitzius: Ich sehe fünf große Trends. Wobei bei jeder dieser Lösungsansätze zur nachhaltigen Effizienzsteigerung die Digitalisierung der Landwirtschaft eine Schlüsselstellung einnimmt, ja diese Ansätze zu einem großen Teil überhaupt erst ermöglicht. Wichtigster Trend und zugleich Kern der Landwirtschaft 4.0 ist die Zusammenführung von Maschinenautomatisierung und Verfahrensautomatisierung. Nur so kann die installierte technische Kapazität der Arbeitsmaschinen in vollem Maße zur Ertragssteigerung bei gleichzeitiger Senkung der Verfahrenskosten genutzt werden.
Dabei wird derzeit hinterfragt, ob jede Maschine einen eigenen Bediener benötigt. Gestützt auf die sich aus der Prozessautomatisierung ergebenden Möglichkeiten zur Arbeitserleichterung und Entscheidungsunterstützung könnte ein Mensch durchaus mehrere Landmaschinen führen.
Die fünf Megatrends
- Zusammenführung von Maschinenautomatisierung und Verfahrensautomatisierung.
- Bodenschonende Fahrwerke
- Systeme zur Ferndiagnose und Wartungsvorhersage
- Neue Leichtbaukonzepte
- Senkung der CO2-Emissionen im Gesamtprozess
Ein Beispiel dafür ist das Konzept Feldschwarm. Dabei arbeiten die Schwarmeinheiten nicht völlig autark, sondern kommunizieren miteinander nach dem Master-Slave-Prinzip. Das heißt, ein Bediener führt eine Anzahl selbstfahrender, hochautomatisierter Arbeitsgeräte vor oder auch hinter seinem als Zentrale fungierenden Traktor praktisch wie ein großes Gespann.
Der Mensch behält dabei also weiterhin die Oberhand?
Ja. Es gibt eine Reihe sozialer und ökonomischer Gründe, warum es besser ist, den Mensch in solch sogenannte kollaborative Automatisierungslösungen zu integrieren, als ihn durch Vollautomatisierung herauszudrängen. Das ist wie beim Tanzen. Wer nicht regelmäßig übt, kommt schneller aus dem Tritt.
Auf die Landtechnik übertragen heißt das: Werden erfahrene Maschinenbediener und ihre qualifizierten Entscheidungen nicht mehr gebraucht – sofern das in naher Zukunft überhaupt wirtschaftlich realisierbar ist – dann können Kompetenzen nicht mehr im nötigen Umfang trainiert und weitergegeben werden. Sollte aber irgendwann einmal die Vollautomatisierung tatsächlich machbar und erwünscht sein, lassen sich dann die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine relativ leicht überbrücken. Umgekehrt geht das dagegen nicht.
Oft wird angeführt, dass sich im Gegensatz zu Industrieanwendungen, Stichwort Industrie 4.0, die Messumgebungen in der Landwirtschaft ständig ändern.
Das gehört in der Tat zu den besonderen Hürden bei der Digitalisierung im Agrarbereich. Aber wir wissen mittlerweile, dass sie überwindbar sind. Nach wie vor fehlt es bei verschiedenen landwirtschaftlichen Prozessen an geeigneten robusten Sensoren, insbesondere im Bereich der Bodenbearbeitung.
Darüber hinaus müssen noch im großen Maßstab angesammelte Erfahrungen in maschinenverarbeitbare Algorithmen umgewandelt werden, um entsprechende Steuerungen entwickeln zu können. Die Überwindung dieser Hindernisse erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit vom Maschinenkonstrukteur über den Pflanzenkundler, Landwirt bis zum Betriebswirtschaftler, wie es sie bisher nicht gab.
Sie sprachen von fünf großen Trends. Welche Entwicklungsrichtungen sind noch erkennbar?
Ein weiterer technologischer Trend in der Landtechnik entstand durch die steigende Nachfrage nach bodenschonenden Fahrwerken. Bei einem Vergleich der Listenpreise verschiedener Hersteller haben wir festgestellt, dass Landwirte bereit sind, dafür einen Aufschlag von etwa 50 000 € zu zahlen, unabhängig vom Grundpreis der Maschine. Über den Effekt von Raupenfahrwerken auf Bodenschonung und Verbesserung der Traktion gibt es in der Wissenschaft allerdings unterschiedliche Meinungen. Eine Alternative ist die zusätzliche Achse. Dafür sprechen geringere Kosten und Verschleiß sowie weniger Rollwiderstand als beim Gleisband.
Mit den Investitionskosten für moderne Landtechnik steigt auch der Verlust, der bei Ausfällen zu Buche schlägt …
… und damit gewinnt die Maschinenverfügbarkeit an Wert. Als dritten Trend sehe ich daher Systeme zur Ferndiagnose und Wartungsvorhersage. Die Vorhersage zur Funktionstüchtigkeit der Bauteile erfolgt auf der Basis von Belastungsakkumulation. Dabei wird die bei der Konstruktion ausgelegte Betriebsfestigkeit mit der von Sensoren registrierten tatsächlichen Beanspruchung verglichen und daraus der Verschleiß errechnet.
So kann durch rechtzeitiges Auswechseln der betreffenden Aggregate ein Ausfall der gesamten Maschine verhindert werden. Solche Vorhersagemodelle, Predictive Maintenance genannt, werden die Instandhaltung verändern und stehen übrigens im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Leichtbau, den ich als vierte maßgebliche Entwicklungsrichtung in der Landtechnikbranche betrachte.
Der Leichtbau ist ja schon einige Zeit im Gespräch, aber bislang, so mein Eindruck, nicht wirklich da.
Da gebe ich Ihnen recht. Aber dessen ungeachtet wird eine Verringerung des Leistungsgewichts kg/kW objektiv immer dringlicher. Setzt sich z. B. die bisherige Entwicklung von Mähdreschern in den nächsten Jahren linear fort, dann haben sie im Jahr 2030 eine Leistung von bis zu 530 kW, ein bis zu 40 ft (12,2 m) breites Schneidwerk und einen etwa 16 m³ großen Korntank, was einen 13-l- oder 16-l-Dieselmotor mit entsprechendem Gewicht erfordert. Das Ganze würde leer 22 t wiegen.
Zwar hat sich das Gewicht der Mähdrescher in Bezug zur Motorleistung von rund 50 kg/kW in den 50er-/60er-Jahren durch die rasant gestiegene Leistungsdichte der Dieselmotoren auf heute 40 kg/kW verringert. Aber da Mähdrescher wegen des Bodendrucks und der Verkehrszulassung insgesamt nicht mehr schwerer werden dürfen, müsste dieser Wert bei einer angestrebten höheren Arbeitsleistung der Maschinen auf 35 kg/kW sinken. Das ist mit Stahl ganz sicher nicht mehr zu machen.
Auch mit verstärktem Einsatz von Aluminiumlegierungen kann man sich solchen Leistungsgewichten bestenfalls nähern. Daher werden Faserverbundwerkstoffe zunehmend auch in Struktur- und Funktionsbaugruppen Einzug halten. Bezogen auf Stahl bringen Faserverbundwerkstoffe bei gleicher Tragfähigkeit nur ein Sechstel des Gewichts auf die Waage. Allerdings sind sie auch sechs mal teurer und es bleibt abzuwarten, wie der Markt auf die dadurch verursachten Kostenerhöhungen reagiert und ob neue Konzepte wie Schwärme kleinerer Maschinen eine wirtschaftliche Alternative darstellen.
Aufwendige Abgasreinigungssysteme verursachen ebenfalls höhere Kosten, ohne direkten Produktivitätsgewinn für den Landwirt.
Zweifellos. Trotzdem geht auch hier die Entwicklung weiter. Und das sehe ich als fünften großen Trend: Nachdem es gelungen ist, den NOX- und Feinstaubanteil in den Motorabgasen mit TIER4 final kräftig zu reduzieren und Motorenhersteller Lösungen zur Abgasnachbehandlung für die ab 2019 geltende Abgasstufe V vorgestellt haben, gibt es Bestrebungen, nun auch die CO2-Emissionen der Landwirtschaft zu senken.
Diese politische Forderung lässt sich jedoch nicht wie für Pkw und leichte Lkw über EU-Flottenlimits nach der Formel CO2/km bewerkstelligen. Zumal eine Senkung des Flottendurchschnitts durch rein elektrisch angetriebene Modelle im Traktorenbereich – trotz aller Erfolge bei der Elektrifizierung von Antriebssträngen – zumindest in naher Zukunft unrealistisch ist.
Warum hinkt der Vergleich?
Im Gegensatz zum Straßenverkehr verbrauchen mobile Landmaschinen den meisten Kraftstoff nicht um etwas von A nach B zu transportieren, sondern um z. B. einen Grubber zu ziehen oder Mais zu häckseln. Sie verrichten Arbeit. Eine starre Verbrauchslimitierung würde deshalb zu Ungerechtigkeiten und Zielkonflikten führen. So benötigen Betriebe für die Bodenbearbeitung an leichten Standorten weniger Energie als auf schweren Böden. Landwirte, die auf eine mechanische Unkrautregulierung setzen und daher mehr Überfahrten benötigen, wären unter dem Gesichtspunkt des CO2-Ausstoßes gegenüber Anwendern chemischer Mittel im Nachteil. Außerdem entstehen CO2-Emissionen ja nicht nur durch die Motoren der Schlepper und Erntemaschinen. Andere Klimagase wie Methan und Lachgas gelangen auch bei verschiedenen Prozessen wie der Düngung oder der Tierhaltung in die Atmosphäre.
Das wäre also eine weitere Stellschraube?
Ja, und zwar die wichtigere. Landmaschinenhersteller sehen in den Verfahrensketten ein höheres CO2-Einsparpotenzial als in den bereits extrem optimierten Motoren und plädieren daher für einen ganzheitlichen Ansatz. Um eine maschinenbezogene gesetzliche Regelung auf EU-Ebene zu vermeiden, arbeitet die Branche an einer Selbstverpflichtung zur CO2-Einsparung. Sie beinhaltet neben Maschinenverbesserungen eine genaue Analyse landwirtschaftlicher Prozesse unter konkreten Standortbedingungen. Daraus resultieren dann Handlungsempfehlungen für eine effiziente Pflanzen- und Tierproduktion mit weniger Klimagasemissionen.
Die Palette reicht von der Reifendruckregelanlage über verbesserte Werkzeuge, Einsatz von Biokraftstoffen bis zu Veränderungen der Fruchtfolge, um durch eine höhere Feldhygiene Überfahrten einzusparen. Mit der durchgehenden Digitalisierung von Prozessdaten und Big-Data-Analysen eröffnen sich enorme Möglichkeiten für eine Optimierung der Verfahrensketten. Das bringt letztlich bedeutend mehr CO2-Einsparung als die mit hohem Aufwand betriebene geringfügige Verbesserung des Motorwirkungsgrades.