Wiederaufbau nach der Flut vom Juli 2021: „Es war ein harter Kampf“
Vor einem Jahr hat die Flutkatastrophe in der alten Industriestadt Stolberg bei Aachen Teile der Unternehmen zerstört. Ob Kupferverarbeiter Aurubis, Knopfprimus Prym oder Kabelspezialist Kerpen Datacom – heute sind die Firmen wieder fit. Die Stadt aber leidet bis heute sichtbar unter den Zerstörungen.
Sie läuft wieder. Axel Wirthmüller ist die Freude ins Gesicht geschrieben. Am Vortag haben sie die vollautomatische Galvanisierungsanlage wieder angefahren. Erst einmal nur im Testbetrieb. Aber die Qualität der Druckknöpfe, die hier mit Weißbronze veredelt werden, sehe schon sehr gut aus, sagt der Betriebsleiter des Geschäftsbereichs Verschlusssysteme für die Textil- und Bekleidungsindustrie bei Prym Fashion sowie des Automobilzulieferers Inovan. Noch ein paar Anpassungen, dann soll die erste von drei Produktionslinien ab Mitte dieser Woche in Produktion gehen. Im Dreischichtbetrieb werden dann wieder Druckknöpfe für Babystrampler und Oberhemden in großen Stückzahlen veredelt.
Hochwasser flutet Teile von Stolbergs Metallindustrie
Als die Flut am 14. Juli 2021 die Firmenzentrale von Deutschlands dienstältestem Familienunternehmen flutete, traf es vor allem Maschinen und Anlagen von Prym Fashion. Lange hatten fehlende Ersatzteile und Lieferengpässe bei Schaltkomponenten den Wiederaufbau ausgebremst. Dass der Geschäftsbereich im letzten Jahr trotzdem Kunden beliefern konnte, verdanken die Stolberger der Unterstützung durch Kollegen in Italien – aber auch durch externe Partnern aus ganz Deutschland –, die die Oberflächen für die Stolberger bearbeiteten. „Ohne diese Unterstützung hätten wir so nicht überleben können“, ist Wirthmüller überzeugt. In den nächsten Wochen sollen die beiden anderen Galvanikproduktionslinien ebenfalls in den Betrieb gehen. Der Betriebsleiter ist stolz: „Wir sind auf der Zielgeraden.“
Prym hat nach der Flut mit dem Aufbau in Stolberg nicht auf die Politik gewartet
Der Wiederaufbau hat Prym ca. 20 Mio. € gekostet, weiß Ansgar Nonn. Unterstützung aus öffentlichen Mittel gab es nicht. Die Sachschäden habe man jedoch mit den Versicherungen regulieren können, erzählt der CEO der Prym Group. Bei der Übernahme der Schäden aus der Betriebsunterbrechung sei man noch „in intensiven Diskussionen mit den Versicherungen“.
Auch über den in der Nähe befindlichen Kupferverarbeiter Aurubis war die Flutwelle seinerzeit mit voller Macht hereingebrochen und hatte die Fertigung quasi komplett zerstört. Es folgten fünf Monate der Aufräumarbeiten mit tatkräftiger Unterstützung von Schwesterwerken und der Konzernzentrale in Hamburg.
Schon im November 2021 konnte die erste Produktgruppe wieder an Kunden ausgeliefert werden. Seit Juni 2022 ist auch die letzte Fertigungslinie wieder in Betrieb. Die Bilanz des Konzerns zum Jahrestag der Flut fällt deshalb positiv aus: „Der Großteil der Produktionsanlagen konnte – bis auf zwei Großanlagen, die neu angeschafft werden mussten – gereinigt, repariert und schrittweise wieder in Betrieb genommen werden“, vermeldet Hamburg just ein Jahr nach der Flut.
Aurubis: Um das Werk in Zukunft noch besser zu schützen, wurde der Katastrophenschutz überarbeitet
Beim Katastrophenschutz sieht man beim Metallkonzern auch Politik und öffentliche Hand in der Pflicht. „Aurubis Stolberg steht hierzu im engen Austausch mit allen Entscheidern in der Region“, so Benjamin Cappi, Geschäftsführer von Aurubis Stolberg.
Bei Kerpen Datacom am anderen Ende der Zweifaller Straße hatte das Wasser in der Hochwassernacht 2,20 m hoch in den Hallen gestanden. Die Flutwelle des Vichtbachs hatte Kabelrollen und ganze Container mit sich gerissen, Maschinen und Produkte mit Schlamm überzogen. Das Firmenareal bot ein Bild der Zerstörung.
Kerpen Datacom: Der Hersteller von Datenkabeln hat sich nach der Flut wieder ganz nach vorne gekämpft
„Wir habe jetzt rund 95 % der Maschinenkapazität wiederhergestellt“, erzählt David Schlenter. Auch hier bremsten Lieferengpässe bei Schaltelementen die Reparaturarbeiten immer wieder aus. Hinzu kamen versteckte Mängel in Maschinen und Anlagen, die sich erst nach und nach zeigten. Einige Maschinen seien nach den Flutschäden etwas störungsanfälliger. Aber Schlenter ist sich sicher: „Das wächst sich langsam raus.“
Juliflut ist die teuerste Naturkatastrophe in Deutschland
Inzwischen haben Sachverständige die Flutschäden des Unternehmens akribisch begutachtet. Keine Selbstverständlichkeit, weiß Firmenchef Schlenter. Diese Experten seien stark gefragt. „So ein Gutachten ist dann auch nicht trivial, wir haben ja Sondermaschinen, da gibt es keinen Vergleichsmarkt.“
Fluthilfe der Landesregierung in NRW war in Stolberg hochwillkommen
Doch ein Jahr nach der Flut konnte Schlenter nun beim Land NRW den Antrag auf die Hochwasserhilfe einreichen. Auch wenn noch keine Hilfen geflossen sind, ist er überzeugt: „Die Fluthilfe war überlebenswichtig.“ Allein die Zusage habe Investoren und Banken beruhigt hat, dass sie nicht die Einzigen sind, die das Risiko tragen. „Es war ein harter Kampf“, sagt Schlenter rückblickend. Der Kabelhersteller hat dieses Jahr 25 neue Mitarbeiter eingestellt, die Belegschaft ist auf rund 200 Köpfe gewachsen. Die Auftragslage sei sehr gut. „Es geht weiter vorwärts“, resümiert der Kerpen-Chef. Es klingt so, als habe er seinen Frieden mit der Flutnacht gemacht.
Hinter der Industriemeile beginnt die Stolberger Innenstadt. Auf der Rathausstraße fließt der Verkehr zwischen verwaisten Ladenlokalen. Viele Anrainer hätten noch keinen Antrag auf Fluthilfe gestellt, weiß Patrick Haas. Sie bräuchten Hilfe bei den Anträgen. „Das Geld kommt nicht so einfach dahin, wo es hin muss“, weiß der Bürgermeister.
In Stolberg warten viele noch ab, wie sich die Lage nach der Flut weiterentwickelt
Schon vor der Flutkatastrophe hatte die Innenstadt mit wachsendem Leerstand zu kämpfen. Jetzt hätten manche Einzelhändler ihren Ruhestand vorgezogen. Andere warteten ab, wie sich die Stadt nach der Flut entwickle, glaubt Haas. „Die, die noch Geld auf der hohen Kante hatten, konnten in Vorleistung treten. Und die, die an Stolberg geglaubt haben, sind auch wieder zurück.“ Wie die drei jungen Händlerinnen in der Fußgängerzone, die – digital und miteinander vernetzt – individuelle Produkte für eine jüngere Käuferschaft anbieten.
In der Altstadt soll unter Federführung der Stadt künftig eine Art Outletcenter entstehen. Ab 2023 sollen Unternehmen Werksverkäufe aller Art anbieten und sich damit von klassischen Mode-Outlets abgrenzen. Erste Immobilienbesitzer konnten für das Projekt bereits geworben werden. Haas würde dazu auch gern Investoren nach Stolberg locken. Das Problem: Geld aus der Hochwasserhilfe beim Wiederaufbau gibt es nur für Besitzer, die schon in der Flutnacht Eigentümer einer Immobilie waren.
Für den Aufbau nach der Flut fehlen in Stolberg oft die Menschen, nicht das Geld
Als Kommune dürfte Stolberg zwar selbst Immobilen erwerben und dazu Fluthilfe beantragen. Aber Haas weiß: „Das schaffen wir nicht. Wir müssen jetzt erst einmal 225 Mio. € verbauen.“ Die haben der Bund und das Land NRW Stolberg für den Wiederaufbau zugesagt. Geld für ein neues Rathaus, für die Instandsetzung von Schulen, Kindergärten, Straßen.
Klimarisiken setzen die Infrastruktur von Städten unter Druck
Eine Riesenherausforderung für eine Stadt, die normalerweise pro Jahr 25 Mio. € verbaut. Und die jetzt für jede noch so kleine konkrete Baumaßnahme zunächst einen Förderantrag stellen muss, bevor tatsächlich Gelder fließen. Es bräuchte Architekten, Ingenieure, Verwaltungsmitarbeiter. „Da fehlen uns die Menschen.“ Schon jetzt zeichne sich deshalb ab: „Das wird ein langer Prozess.“
Stolbergs Industrie sieht die Zukunft in der Energiewende
Und es gibt weitere Baustellen. Zum Beispiel dringend benötigte Maßnahmen zum Hochwasserschutz. Und nicht zuletzt neue Konzepte, um Stolbergs Industrie mit ihren Arbeitsplätzen im Vichtbachtal zu halten. Das von der Stadt mit Partnern angestoßene Projekt „Grüne Talachse 2030“ will mit Stolbergs Industrie die Energiewende angehen und hat nach der Flut kräftig Fahrt aufgenommen. 13 energieintensive Unternehmen, darunter Prym, Aurubis und Kerpen Datacom, nehmen gerade an einer Machbarkeitsstudie teil. Perspektivisch gehe es um die Umstellung von Gas auf Wasserstoff und um den Aufbau von Infrastruktur für Windkraft- und Solarenergie.