Ziegen als Frühwarnsystem bei Vulkanausbruch
Wissenschaftler rüsten Wildtiere mit intelligenten Minisendern aus und können so deren Wanderschaft vom All aus verfolgen. Die Daten verraten nicht nur Verbreitung und Zugverhalten. Auch Naturkatastrophen lassen sich damit zuverlässig vorhersagen.
Der Blick von der Internationalen Raumstation ISS auf die Erde ist nicht nur atemberaubend schön. Die Satellitenperspektive offenbart auch die Wanderungsbewegungen von Abermillionen Tieren und damit tiefe Einblicke in ökologische Zusammenhänge: bedrohte Zugvogelarten, die zu ihren Winterquartieren in wärmere Regionen aufbrechen; Elefantenherden, die die Dürre zu riskanten Abstechern außerhalb der Schutzgebiete treibt; oder Hunderte Kilometer weit fliegende Fledermäuse – darunter Arten, die wirtschaftlich wichtige Früchte wie Mango oder Avocado bestäuben, aber auch solche, die gefürchtete Krankheiten wie Ebola verbreiten.
Alles was man braucht, um das alljährliche Zugverhalten und die Streifzüge der Tierarten zu verfolgen, ihre Verbreitung und das Wechselspiel zwischen Wanderschaft und Natur besser zu verstehen, ist ein kleiner Sender, mit dem einige Vertreter der Tierarten ausgerüstet werden. Die nur wenige Gramm schweren Geräte senden Angaben zu Ort und Bewegung an einen Satelliten oder an die Raumstation ISS.
Genau das ist die Idee des Icarus-Projekts. Das Kürzel steht für International Cooperation for Animal Research Using Space, einer weltweiten Zusammenarbeit von Forschern aus Europa – darunter das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR in Köln) und das Max-Planck-Institut für Ornithologie in Starnberg – sowie aus Russland.
„Die Sender sind inzwischen so leicht und klein, dass sich damit bald schon Hummeln und Schmetterlinge ausrüsten lassen“, sagt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie und Professor an der Universität Konstanz. Eine wiederaufladbare Batterie oder eine Solarzelle liefert ausreichend Energie, um wochenlange Wanderungen um den halben Globus zu dokumentieren.
Die Sender enthalten ein GPS-Element für die Positionsbestimmung sowie einen 3-D-Beschleunigungsmesser, der viel über die Aktivität des Tieres verrät: Fliegt, schwimmt oder streift es herum, schläft es gerade oder kämpft es?
Größere Tiere ließen sich künftig mit implantierbaren Sensoren ausrüsten, die in regelmäßigen Zeitabständen Vitaldaten wie Puls und Körpertemperatur erfassen. Die Forscher erhalten so einen genauen Überblick über den gesundheitlichen Zustand des Tieres. Hinzu kommen Sensoren, die Temperatur, Ozon- und CO2-Gehalt der Luft oder Temperatur und Salzgehalt des Wassers messen.
Ein Chip verarbeitet und speichert alle Daten. Diese werden in regelmäßigen Zeitabständen an einen Satelliten und ab dem kommenden Jahr an die ISS übermittelt. Denn dann werden Astronauten eine Antennenanlage auf der ISS installieren. Die Raumstation dient so als Relais zwischen den Tiersendern und einem Betriebszentrum am Boden.
Der Vorteil der Konstruktion: Regelmäßig überfliegt die ISS jeden Ort auf der Erde in nur etwa 400 km Höhe, auch dort, wo es keine Mobilfunkabdeckung gibt. Alle Daten fließen in eine öffentlich zugängliche Online-Internetplattform. „Movebank“ enthält präzise Bewegungsprofile von Tieren, die unmittelbar mit biologischen und ökologischen Informationen verknüpft sind. Daten, die die Wissenschaft revolutionieren werden, ist Wikelski überzeugt: „Mit den kleinsten Sendern der Welt werden wir weltweit funken und ganz neue Erkenntnisse über das Leben und Sterben, die Physiologie und das Verhalten von wandernden Tieren gewinnen.“
Seit 2002 sind die deutschen Forscher mit ihren Kollegen dabei, die Infrastruktur für das Icarus-Projekt aufzubauen. Dabei haben sie manche Überraschung erlebt, berichtet Wikelski. Im Jahr 2011 reisten der Max-Planck-Forscher und sein Team mit einer besonderen Frage an den Ätna nach Sizilien: „Wenn wir in Gegenden, die von Naturkatastrophen bedroht sind, verschiedene Tiere mit Sendern ausstatten und ihr Verhalten aufzeichnen, lässt sich im Nachhinein herausfinden, welche Tiere einen Vulkanausbruch oder ein Erdbeben vorausgesagt hätten?“
Obwohl der Ätna zu den am besten erforschten Vulkanen der Welt zählt, lassen sich solche Ereignisse bislang kaum zuverlässig vorhersagen, vor allem, was ihre Stärke betrifft. Wikelski und seine Kollegen wollten daher herausfinden, ob es Tiere gibt, die das besser können.
Berichte bestärkten die Forscher in dieser Annahme. Zunächst dachten sie an Gänse. Doch das Gespräch mit einem einheimischen Hirten, der vom „sechsten Sinn“ seiner Tiere überzeugt war, brachte sie rasch auf Ziegen. Einige Tiere, die in kleinen Herden das ganze Jahr über an den Hängen des Vulkans leben, wurden mit einem Sender am Halsband ausgestattet. Dieser zeichnet die exakte GPS-Position und das Bewegungsprofil auf.
Über das lokale Funknetz haben die Forscher die Daten ausgelesen und mit einem speziellen Computerprogramm statistisch ausgewertet. Das Ergebnis: „Der ,Ziegendetektor‘ funktioniert tatsächlich“, freut sich Max-Planck-Forscher Wikelski. „Immer wenn ein größerer Ausbruch bevorstand, waren die Tiere bereits Stunden vorher ungewöhnlich unruhig, liefen auf und ab oder flüchteten unter Büsche und Bäume.“
Überstieg der Aktivitätslevel der Tiere einen bestimmten Schwellwert, war das ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Vulkanausbruch bevorstand. Die Wissenschaftler hätten anhand der Datenlage während der rund zweijährigen Beobachtungszeit jeden der sieben großen Ausbrüche des Ätna zuverlässig vorhersagen können.
Kleinere Eruptionen hatten auf die Aktivität der Tiere dagegen keinen Einfluss. Als nächstes wollen die Forscher erproben, ob der „Ziegendetektor“ als Frühwarnsystem auch andernorts taugt.