Zahnstifte revolutionieren Getriebe
Wer das Galaxiegetriebe zum ersten Mal sieht, der fragt sich spontan, wie es mit den vielen bewegten Teilen effizient arbeiten kann. „Das ist eine normale Reaktion“, weiß der Entwicklungsleiter und Erfinder Thomas Bayer. Er und sein Team beim Mechatronikspezialisten Wittenstein aus Igersheim hatten sowohl den Mut als auch die Gelegenheit, ihre eigenen anfänglichen Zweifel durch beharrliches Erfinden und Entwickeln zu überwinden.
Am Funktionsmodell beschreibt Bayer, wie die dynamischen Einzelzähne, die nun die starren Zähne eines Zahnrades ersetzen, zwischen die Zahnflanken des Hohlrades gleiten. „Im Betrieb hilft uns der hydrodynamische Effekt“, beschreibt Bayer den Vorgang. Die Einzelzähne bewegen sich damit gleitend auf einem Ölfilm. Anders als bei klassischen Zahngeometrien wälzen sich die Zahnflanken dabei nicht aufeinander ab, sondern gleiten oszillierend nahezu komplett in die Innenverzahnung hinein und anschließend wieder heraus. „Bei der Kraftübertragung haben wir daher nicht den sonst üblichen Punkt- oder Linienkontakt, sondern einen Flächenkontakt“, verdeutlicht der Ingenieur die Besonderheit des Funktionsprinzips.
Durch den Flächenkontakt ist das Getriebe in der Lage, deutlich höhere Kräfte zu übertragen als andere Getriebearten in gleicher Baugröße, zumal durch das innen liegende Polygon immer mehrere Zähne im Eingriff sind. Umgekehrt könnten bei gleicher Baugröße höhere Drehmomente übertragen werden. Der von seinem Unternehmen gemessene Wirkungsgrad des Galaxiegetriebes liegt dabei mit 91% im Bereich eines Planetenantriebes und ist besser als bei Zyklo- oder Harmonic-Drive-Getrieben. Laut Bayer wird durch das Antriebspolygon zudem ein perfekter Gleichlauf erreicht, bei dem die Zähne nach dem Vorbild einer „logarithmischen Spirale“ aneinander entlang gleiten. Auch eine Spiralgalaxie folgt diesem Muster.
Von der ersten Idee bis heute hat die Entwicklung viele Jahre gedauert. „Zunächst vergleicht man natürlich immer bestehende Getriebearten und schaut nach Verbesserungspotenzialen“, beschreibt Bayer den Entwicklungsprozess. Alle Konzepte vom Exzentergetriebe mit Evolvente, über das Harmonic-Drive-Prinzip, Hypoidgetriebe, Stirnrad-, Planetenrad- und Zykloid-Getriebe hätten dabei ihre spezifischen Stärken und Schwächen gezeigt. Bei der Herangehensweise komme man allerdings auch immer wieder zu den gleichen Lösungen. Der Ingenieur nennt das „den Vektor der psychologischen Trägheit“.
Erst durch die russische „Theorie des erfinderischen Problemlösens“ namens TRIZ, seien er und sein Team auf die Bedeutung der „örtlichen Qualität“ aufmerksam geworden, verdeutlicht Bayer den entscheidenden Schritt bei der Entwicklung des neuen Antriebs: „Dann war klar, dass wir einen echten Flächenkontakt bei der Verzahnung brauchen und dieser nur durch eine Segmentierung des Zahnrades in Einzelzähne zu realisieren ist.“ Im Vergleich zu den Druckellipsen, die sich bei den besten Getrieben ausbildeten, sei die Fläche zur Druckübertragung beim Galaxiegetriebe nach der FEM-Simulation bei Wittenstein bis zu 6,5 Mal größer.
Als weitere Vorteile neben der dadurch möglichen Übertragung höherer Drehmomente nennt der Entwickler die Steifigkeit. Im Gegensatz zu Zahnradzähnen gäbe es bei den Einzelzähnen keine Biegelängen. Bei Extrembelastung würden die Einzelzähne eher abscheren als nachgeben. Dies bewirkt eine 3 bis 5 Mal höhere Verdrehsteifigkeit des Galaxieantriebs. Gleichzeitig arbeite das System mit Zweier- oder Dreierpolygon konstruktionsbedingt spielarm und könne auch spielfrei eingestellt werden, sagt Bayer. Im Praxistest habe im 24-h-Dauerlauf auch nach zweieinhalb Jahren kein Verschleiß festgestellt werden können. Außerdem laufe der Antrieb sehr leise.
Den Nachteil der aufwendigen Bauweise und der entsprechend höheren Produktionskosten sollen neue Lösungen wettmachen, die mit herkömmlichen Getrieben nicht realisierbar sind. Wittenstein hat das neue Antriebskonzept daher in der Erprobungsphase mit kleinen Kunden und in Nischenanwendungen erprobt. „Ein Walzanlagenhersteller hat damit eine neue Maschinengeneration entwickelt, die nach Unternehmensangaben eine um 40% höhere Produktivität erreicht“, verdeutlicht Bayer eine Praxiserfahrung.
Den bisher kniffligsten Einsatz hatte das Getriebe dagegen bereits in der Raumfahrt. Zur Steuerung einer Rakete brauchte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) laut dem Erfinder dringend einen leistungsstarken Antrieb. Für die zur Verfügung stehenden Systeme sei der Bauraum zu gering gewesen, was eine Neukonstruktion der Rakete erfordert hätte. „Wir sind beide ein hohes Risiko eingegangen“, macht Bayer nun erleichtert deutlich. Die Rakete ist 2012 erfolgreich geflogen.
Mit der Markteinführung des Antriebskonzeptes zur Hannover Messe bekommt der Leiter „Generierungsprozess“ eine zusätzliche Aufgabe. Bayer wird bei seinem Arbeitgeber Wittenstein zum Leiter „Galaxieantriebssysteme“. In dieser Funktion soll er künftig dazu beitragen, das Antriebskonzept weiter hin zur wirtschaftlichen Reife zu entwickeln.
Denn ihm ist bewusst: „Weil das Konzept keinem Lehrbuch entspricht, wird es sich zunächst in Bereichen durchsetzen, in denen neue Maschinenkonzepte entwickelt werden.“ Darauf will sich Bayer mit seinem Team künftig konzentrieren. Er sieht Anwendungen insbesondere im Hochleistungsmaschinenbau wie beispielsweise in Werkzeugmaschinen, in der Luft- und Raumfahrt, aber auch bei großen Robotern.
Dass im Moment hauptsächlich über digitale Innovationen gesprochen wird, ist Bayer dabei nicht entgangen. Deshalb ist es ihm wichtig, auf den speziell zu dem Getriebe entwickelten Hochleistungsmotor zu verweisen. Damit könne der Antrieb dann auch geregelt betrieben werden. So ließen sich im Extremeinsatz Schwingungen adaptiv „rausregeln“. „Industrie-4.0-fähig“, ist das Produkt damit laut dem Entwickler bei Wittenstein also auch.