Commerzbank Chefvolkswirt hält Industriestandort für gefährdet: „Eine konsistente Energiepolitik fehlt“
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, kritisiert die deutsche Standortpolitik und warnt vor einer Deindustrialisierung Deutschlands.
VDI nachrichten: Zuerst die Coronakrise und dann der unerwartete Überfall Russlands auf die Ukraine. Vor allem Rohstoffe haben sich kräftig verteuert. Besonders getroffen hat dies weite Teile der Industrie. Die Angst vor einer Deindustrialisierung geht um – zu Recht?
Jörg Krämer: Die energieintensiven Unternehmen haben ihre Produktion seit Februar bereits um 10 % reduziert. Viele denken darüber nach, die Produktion aus Deutschland abzuziehen, weil Energie hierzulande auf Jahre teurer sein dürfte als in anderen Ländern. Die Warnungen vor einer Deindustrialisierung sollte man ernst nehmen.
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag der Anteil der Industrie laut OECD 2017 noch bei 23 %. Bis Ende 2021 ist er auf ca. 20 % abgeschmolzen. Erleben wir seit Jahren einen schleichenden Rückgang der Industrie an der Wertschöpfung?
Bis kurz vor Ausbruch von Corona war der Anteil der Industrie an der Gesamtwirtschaft ziemlich stabil. Insofern konnte man bis dahin nicht von einem schleichenden Rückgang der Industrie sprechen. Aber der Energiepreisschock könnte das in Zukunft ändern.
Der Standort Deutschland verliert bereits seit geraumer Zeit an Attraktivität
Wie wichtig ist für die Unternehmen die Entwicklung der Standortqualität?
In der langen Zeit unter Bundeskanzlerin Merkel war bereits eine Erosion der Standortqualität zu beobachten. Ich hatte – beginnend 2010 – anhand von Indikatoren der Weltbank die Standortqualität Deutschlands mit anderen EU-Ländern verglichen. Zunächst lag Deutschland nach meinen Berechnungen im vorderen Drittel, aber zuletzt nur noch im Mittelfeld. Dabei hat sich Deutschlands Standortqualität nicht absolut verschlechtert. Vielmehr fiel Deutschland zurück, weil andere EU-Länder an ihren Standortbedingungen gearbeitet haben, Deutschland aber nicht. Wir hatten schon ein Standortproblem, bevor die Energiepreise explodierten.
Welche Industriebranchen leiden besonders unter den kräftig gestiegenen Kosten?
Natürlich die energieintensiven Bereiche, also Chemie, Metallerzeugung und -verarbeitung, Mineralölverarbeitung, Glas und Keramik sowie die Herstellung von Papier und Pappe. Diese Branchen stehen immerhin für 21 % der industriellen Wertschöpfung.
Muss man auch nach weltweit tätigen Großunternehmen und mittelständischen Unternehmen unterscheiden?
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