Franzosen sind produktiver als die Deutschen
Frankreich gilt als verkrustetes und wenig innovatives Land. Jetzt sollen Arbeitsmarktreformen den Aufschwung bringen. Dennoch ist das Land nicht der kranke Mann Europas.
Seit Wochen demonstrieren Jugendliche in französischen Großstädten gegen die von der Regierung geplanten Einschnitte in der Arbeitsmarktgesetzgebung. Den Unternehmen soll unter dem Schlagwort der Flexibilität mehr Freiheit bei Bezahlung, Überstunden und Arbeitspausen eingeräumt werden.
Die Proteste scheinen das Bild zu bestätigen, das in Deutschland vorherrscht: Frankreich ist ein reformunfähiges Land mit einem verkrusteten Arbeitsmarkt. Erst vor vier Wochen kam eine Untersuchung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zu dem Ergebnis, dass in Frankreich die Löhne starr, der Mindestlohn hoch und die Arbeitsanreize niedrig sind.
Diese Kritik kommt im Nachbarland nicht gut an. Franzosen mögen es nicht, als zweitstärkste Industrienation in der Europäischen Union kleingeredet zu werden. Viele finden es arrogant und anmaßend, wenn deutsche Handelspartner das Land belächeln.
Auch der frühere Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Heiner Flassbeck ist verärgert, wenn von Frankreich als dem „kranken Mann Europas“ die Rede ist. Gegenüber den VDI nachrichten geißelt er die „Arroganz der Deutschen“, die wirtschaftlichen Leistungen des Nachbarn schlechtzureden. Bis zur Finanzkrise 2008 war das Wachstum in Frankreich deutlich höher als in Deutschland, seither stagniert es. Der private Verbrauch und die Bruttoanlageinvestitionen (jeweils real) jedoch liegen seit der Jahrtausendwende signifikant über den Werten von Deutschland.
Für die Stagnation der französischen Wirtschaft ist nach Ansicht von Flassbeck auch Deutschland mit verantwortlich. Hierzulande seien die Reallöhne seit der Jahrtausendwende hinter der Produktivitätszunahme zurückgeblieben. Das habe deutschen Unternehmen Lohnkostenvorteile verschafft. In Frankreich dagegen entwickelten sich Reallohn und Produktivität bis 2008 im Gleichklang.
Bei der Produktivität muss sich Frankreich nicht verstecken. Zwischen 1991 und 2013 ist im verarbeitenden Gewerbe die Bruttowertschöpfung je Stunde jährlich im Schnitt um 3,7 % gestiegen, in Deutschland dagegen nur um 2,6 %. Das zeigen Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Bezogen auf alle Beschäftigten lag die Produktivität in Frankreich im Jahr 2014 (neuere Zahlen liegen nicht vor) gut 15 % über dem Durchschnitt der EU, in Deutschland aber nur um 6 %, wie die Statistikbehörde Eurostat ermittelt hat.
In der Industrie kann Frankreich mit technischen Spitzenleistungen aufwarten. Jüngst hat das Land einen Riesenauftrag für seine Rüstungsindustrie ergattert. Das Unternehmen DCNS, das mehrheitlich dem Staat gehört, wird Australien zwölf U-Boote für umgerechnet rund 35 Mrd. € liefern. Bei diesem Deal hat DCNS Wettbewerber aus Deutschland und Japan ausgestochen. Auf der STX-Werft in St. Nazaire am Atlantik liefen im vorigen Jahr zwei Hubschrauberträger für Russland vom Stapel.
Nicht nur bei Rüstungsgütern, sondern auch bei zivilen Produkten können die Franzosen punkten. Ebenfalls in St. Nazaire werden Luxus-Kreuzfahrtschiffe der Oasis-Klasse gebaut, auch die Queen Mary 2 wurde dort fertiggestellt.
Zusammen mit Großbritannien hat Frankreich das Überschallpassagierflugzeug Concorde entwickelt – eine technische Meisterleistung, die auf dem Weltmarkt aber nicht verkäuflich war. Für die spätere Entwicklung des europäischen Airbus-Projekts hat Concorde wertvolle Erfahrungen in der internationalen zivilen Zusammenarbeit beigesteuert. Beim Airbus sind Frankreich und Deutschland federführend. Das Unternehmen teilt sich mit Boeing den weltweiten Markt für Großraumflugzeuge.
Der Eurotunnel zwischen Calais und Folkestone ist mit seinen 34 km langen drei Röhren auf dem Meeresgrund (Eisenbahnlinien plus Dienstleistungsröhre) in seiner Konstruktion einzigartig. Einen ähnlich langen unter Wasser liegenden Tunnel gibt es nicht.
Trotz Spitzenleistungen ist in Frankreich der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung mit 11 % nur halb so hoch wie in Deutschland. Jenseits des Rheins ähnelt die Wirtschaftsstruktur mit einem Dienstleistungsanteil an der Wertschöpfung von rund zwei Dritteln mehr der Wirtschaft Großbritanniens oder der USA.
Nach einer längeren Phase der Stagnation mehren sich jetzt in Frankreich die Zeichen für eine Besserung. Im ersten Quartal dieses Jahres wuchs die Wirtschaft um 0,5 %. Die Konsumausgaben der Privathaushalte legten mit 1,2 % so stark zu wie seit 2004 nicht mehr, auch die Unternehmen investieren mehr. Experten erwarten 1,5 % Wachstum bis zum Jahresende.
Seit Anfang Mai zeigt sich ein Lichtblick auf dem Arbeitsmarkt. 60 000 Arbeitsuchende haben seit Jahresbeginn eine Anstellung gefunden. Zum Vergleich: 2015 waren es insgesamt 82 000. Frankreich zählt aber immer noch 3,5 Mio. Erwerbslose, das sind rund 10,3 %. Finanzminister Michel Sapin ist dennoch sicher: „Wir ernten jetzt die Früchte des Wachstums.“
Die Regierung will die Erholung von Industrie und Wirtschaft mit Reformen absichern. Nichts ärgert französische Politiker mehr als dauernde Zweifel, man bewege nichts. Mögen Tausende Franzosen auf der Straße gegen die Wirtschaftspolitik protestieren, ein Reformmittelpunkt bleibe die Neuordnung des Arbeitsmarktes, sagen Berater von Premierminister Manuel Valls. „Sie wird für Aufschwung sorgen!“, verspricht ein Regierungsbeamter.
Dazu soll auch ein Gesetzentwurf aus dem Arbeitsministerium beitragen. Ministerin Myriam EL Khomri will betriebsbedingte Kündigungen erleichtern und Bußgelder für ungesetzliche Entlassungen begrenzen. Zudem will sie die 35-Stunden-Woche aufweichen. Künftig, so die Ministerin, könnte für die Dauer von 16 Wochen im Jahr die wöchentliche Arbeitszeit bis zu 46 Stunden betragen, „unter außerordentlichen Umständen“ sogar bis zu 60 Stunden. Die Mehrheit der Franzosen begrüßt die Reform, zumindest sagen sie das in Meinungsumfragen.
Allerding sitzt EL Khomri eine prominente Gegnerin im Nacken: die frühere Sozialministerin Martine Aubry. Sie sagt, die vor 16 Jahren eingeführte 35-Stunden-Woche habe Millionen Jobs gebracht. Die Sozialistin will keine Aufweichung des Gesetzes. Die Konservativen haben immer bezweifelt, dass die 35-Stunden-Woche eine Jobmaschine ist, aber deren Abschaffung haben sie nicht gewagt. Dabei ist die 35-Stunden-Woche nicht in Stein gemeißelt: Sie markiert nur die Grenze, ab der Zuschläge gezahlt werden müssen.