Sicherheitspolitik 26. Apr 2023 Von Barbara Odrich Lesezeit: ca. 5 Minuten

Furcht vor Nordkorea: Japan greift nach der Atombombe

Zeitenwende im Pazifik: Ukrainekrieg und die nordkoreanischen Raketentests lassen Japan aufrüsten. Dabei fällt langsam das nukleare Tabu.

Japan hat kürzlich 400 Marschflugkörper des Typs Tomahawk bestellt. Damit reagiert es auf die nukleare Bedrohung durch Nordkorea. Das Foto zeigt den Start einer Tomahawk von einem US-Zerstörer im Pazifik im Jahr 2019.
Foto: Mass Communication Specialist 2nd Class Taylor DiMartino, U. S. Navy/Public Domain

Als Japans Premierminister Fumio Kishida Ende vergangenen Jahres die neue Sicherheitsstrategie des Landes vorlegte, sprach er vorsichtig von einem „Wendepunkt“. Vielerorts wurde aber die anstehende massive Aufrüstung Japans als „pazifische Zeitenwende“ kommentiert. Konfrontiert von China und Nordkorea sieht sich Japan gezwungen, seine rüstungs- und wehrpolitische Ausrichtung drastisch zu ändern. Japan verdoppelt den Wehretat, legt Munitionsvorräte an und kauft erstmals Offensivwaffen. So sollen die eigenentwickelten Antischiffsraketen vom Typ 12 so weiterentwickelt werden, dass sie Ziele statt in 200 m künftig in 1500 m Entfernung treffen können – und zwar nicht nur auf See, sondern auch an Land.

Japan will seine Antischiffsraketen vom Typ 12 so weiterentwickeln, dass sie Ziele in 1500 km Entfernung treffen können. Damit gerät Nordkorea in Reichweite. Foto: imago images / Future Image/K. Nara

Zudem gab Ende Februar Premierminister Fumio Kishida bekannt, dass sein Land 400 Marschflugkörper des Typs Tomahawk in den USA bestellt habe. Ihre Reichweite liegt bei mehr als 1700 km. Mit diesen Reichweiten könnten beide Waffensysteme jedes Ziel in Nordkorea erreichen.

Japan reagiert auf die Bedrohung durch Nordkoreas Atomraketen

Auch wenn für Japan die wahre Bedrohung von China ausgeht und die Nation das militärische Auftreten Chinas in Ostasien als eine der „größten strategischen Herausforderungen“ ansieht, beunruhigen das Land aktuell vor allem die Spannungen auf der nordkoreanischen Halbinsel. Die Gefahr durch Nordkoreas Raketen- und Atomwaffenprogramm führt dabei zu einer merklichen Sensibilisierung in der Bevölkerung.

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Hatte Nordkorea bereits im vergangenen Jahr mehr Raketentests als je zuvor ausgeführt und bis zu 100 atomwaffenfähige Raketen einschließlich Interkontinentalraketen und auch Lenkflugkörper getestet, reißt die Testwelle auch in diesem Jahr nicht ab. Erst dieser Tage wurden alle Programme des japanischen Nachrichtensenders NHK und anderer Kanäle am Morgen gänzlich unterbrochen, weil Nordkorea offenbar erneut eine atomwaffenfähige Rakete testete. Das führte auch dazu, dass die Bewohner und Bewohnerinnen der japanischen Insel Hokkaido kurzfristig aufgefordert wurden, Schutz zu suchen, ehe die Rakete ins Meer stürzte.

Japans Bürger wollen ein engeres Bündnis mit den USA

In der Bevölkerung ist inzwischen eindeutig ein Umdenkungsprozess zu erkennen. So spricht sich die Mehrheit der Japaner und Japanerinnen nun dafür aus, dass das Land im Sicherheitsbündnis mit den Vereinigten Staaten eine deutlich größere Rolle übernimmt. In einer Umfrage der Wirtschaftszeitung Nikkei Shimbun Ende 2023 sprachen sich 49 % der Befragten für eine erweiterte Rolle im Bündnis aus, während 46 % dagegen waren.

Japan sucht angesichts der Bedrohungen durch China und Nordkorea die militärische Zusammenarbeit mit den USA. Hier üben japanische Soldaten beim Training mit der US-Marineinfanterie in Kalifornien. Foto: Lance Cpl. Angel Serna, USMC/Public Domain

Dies stellt eine unverkennbare Umkehr dar und zeigt, dass die Bedrohung der nationalen Sicherheit die japanische Öffentlichkeit stark beschäftigt. Noch 2020, als diese Frage zum ersten Mal gestellt wurde, sprachen sich nur 41 % für eine größere Rolle aus, während 53 % dagegen waren. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine war ein wichtiger Faktor für diesen Meinungswandel. Für viele Japaner verdeutlicht der Krieg in der Ukraine, was es bedeutet, einem solchen Risiko ausgesetzt zu sein. In den japanischen Fernsehmedien werden die Entwicklungen in der Ukraine täglich detailliert berichtet.

Paywall

Japaner machen sich Sorgen um die Sicherheit ihres Landes

Auf die Frage, ob sich die Japaner Sorgen über einen Angriff machen, bejahten das 83 % der Befragten, während 14 % dies verneinten. Die Sicherheitsbedenken sind für viele Japaner eindeutig in den Vordergrund gerückt. In der jüngsten Umfrage gaben 89 % der Befragten an, dass sie China als Bedrohung wahrnehmen. Insgesamt 87 % der Befragten gaben an, dass sie sich durch das nordkoreanische System bedroht fühlen.

Die Frage nach einer atomaren Bewaffnung Japans ist keineswegs neu und läuft seit Jahren. Zum größten Teil läuft diese Debatte im Hintergrund ab. Hin und wieder gerät sie aber auch in den Vordergrund. Bereits 2006 brach der damalige Außenminister Taro Aso das Tabu und erklärte: „Wenn ein Nachbarland Atomwaffen hat, kann man es nicht ablehnen, die Frage der nuklearen Bewaffnung in Erwägung zu ziehen.“ Dieses sagte er kurz nach einem Atomwaffentest Nordkoreas. Die Entrüstung war seinerzeit enorm. Viele forderten den sofortigen Rücktritt des Politikers. In einer Umfrage lehnten 80 % ein japanisches Atomwaffenprogramm ab.

Japans Prinzipien im Umgang mit Atomwaffen geraten ins Wanken

Seitdem bemüht sich die japanische Politik, die Sorgen seiner Nachbarn über eine nukleare Aufrüstung immer wieder zu beschwichtigen, eine langsame Aufweichung der verhärteten Positionen ist aber nicht zu erkennen. Der frühere Premierminister Shinzo Abe erklärte, dass Japan an seinen drei Prinzipien, der Nichtaneignung, der Nichtproduktion und der Nichteinfuhr von Nuklearwaffen festhielte. Allerdings erlaube es die Verfassung durchaus, Atomwaffen in kleinem Umfang zur Selbstverteidigung zu besitzen. Nicht wenige Japankenner halten den Gedanken einer nuklearen Bewaffnung Japans zwar für abwegig und argumentieren damit, dass es kaum eine andere Gesellschaft auf der Welt gibt, die wie Japan derart antinuklear eingestellt ist. Andere allerdings beobachten eine Aufweichung dieser Haltung und sehen eine schleichende Ausweitung sicherheitspolitischer Maßnahmen. Dazu gehört die Entwicklung neuer Waffengattungen und die unverkennbar höheren Investitionen in seine Sicherheitspolitik. Das bedeutet zum einen die Verstärkung der eigenen Verteidigungskapazitäten, aber auch die Fähigkeit zum Gegenschlag zu verbessern.

Shinzo Abe, einstiger Premierminister, plädierte früh für japanische Atomwaffen. Foto: U.S. Navy Petty Officer 1st Class Dominique A. Pineiro/Public Domain

Waren sich viele Experten noch vor wenigen Jahren einig, dass es als Konsequenz einer atomaren Aufrüstung Japans zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zur Schutzmacht USA kommen und Japan sich völlig isolieren würde, hat sich auch dies gewandelt. Auf einem Treffen zwischen dem US-Präsidenten Joe Biden und Japans Regierungschef Fumio Kishida in Washington Anfang des Jahres erklärte Joe Biden: „Ich kann nur sagen, dass ich nicht glaube, dass es jemals eine Zeit gab, in der wir uns näher waren. Die Vereinigten Staaten stehen voll und ganz hinter dem Bündnis. Und wir bauen es aus, um Putin zur Rechenschaft zu ziehen für seinen Krieg in der Ukraine.“ Der Ruf nach Atomwaffen ist in Japan nicht mehr ein absolutes Tabuthema. Schon länger debattiert das Land eine atomare Abwehr. „Japan ist das einzige Land der Welt, das eine Atombombe erlebt hat. Deswegen war das Thema, eigene Kernwaffen zu besitzen, bislang immer tabu. Aber seit einigen Jahren wird nun doch darüber diskutiert“, erläutert Toshihiro Nakayama, Politikwissenschaftler an der Keio Universität in Tokio.

Mehrheit der Japaner lehnt Atomwaffen weiterhin strikt ab

Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung eigene Atomwaffen für Japan weiter strikt ablehnt. Der frühere Premier Shinzo Abe gehörte zu den starken Kräften in Japan, die sich dafür einsetzten, dass Japan seine Blockadehaltung aufgeben und sich an einer aktiven Debatte über Atomwaffen beteiligen soll. In einer Sendung von Fuji Television sagte er: „Japan sollte in seinen Diskussionen verschiedene Optionen in Betracht ziehen, darunter auch die gemeinsame Nutzung von Atomwaffen.“ Abe deutete an, dass ein Abkommen über die gemeinsame Nutzung von Atomwaffen, ähnlich dem der Nato, für die japanische Öffentlichkeit eine Option sein könnte.

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Die japanische Atomenergiepolitik hatte immer auch eine sehr reale Seite. Das heißt, dass Japan ganz bewusst an der Möglichkeit festhalten will, innerhalb kürzester Zeit Atombomben herstellen zu können. Das ist einer der Gründe, warum das Land an den Atomkraftwerken festhalten will und diese ein wichtiger Teil der Energiemischung bleiben. Japan verfügt über genug Spaltmaterial für einen schnellen Bombenbau. Nach Aussagen von Experten brauche das Land nur sechs Monate dafür. Der frühere Verteidigungsminister Shigeru Ishiba erklärte dazu: „Japan braucht kommerzielle Reaktoren, weil sie uns erlauben, in kurzer Zeit einen Atomsprengkopf herzustellen.“ Die größte japanische Tageszeitung, Yomiuri Shimbun, schrieb vor einiger Zeit in einem Kommentar, dass Japans Vorräte an Plutonium ein potenzielles atomares Abschreckungsmittel seien.

Wiederaufbereitungsanlage erzeugt Plutonium für Atombomben

Um der nuklearen Bedrohung aus Nordkorea etwas entgegensetzen zu können, entsteht im Norden des Landes in der Präfektur Aomori eine Wiederaufbereitungsanlage für radioaktive Abfälle. Diese Anlage soll nach mehrfachen Verzögerungen in der ersten Hälfte 2024 fertiggestellt werden. Sie soll eine entscheidende Rolle bei der Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennstoffe aus Reaktoren im ganzen Land spielen. Es geht dabei vor allem um die Gewinnung von Uran und Plutonium für die Wiederverwendung. Mit den rund 46 t Plutonium, die bislang beim Betrieb der japanischen Atomkraftwerke angefallen sind, ließen sich Experten zufolge genug Atombomben bauen, um eine Drohgebärde aufzubauen und das Kräfteverhältnis in der Region zu verändern.

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