Koalitionsvertrag: Die Reaktionen der Branchen
Das Werk steht. Auf 177 Seiten sind SPD, Grüne und FDP in Teilbereichen sehr konkret geworden. Wir haben uns besonders relevante Stellen und die Reaktionen darauf genauer angeschaut.
Die künftige Regierung übernimmt das Ruder in einer Zeit, in der das Coronavirus weniger denn je im Griff zu sein scheint. Die Pandemie zu besiegen, sei vordringlichste Aufgabe, heißt es deshalb im Koalitionsvertrag.
Forschung und Gesundheit im Visier
Der Kampf gegen Corona wird vornehmlich Aufgabe der SPD sein, die das Ressort Gesundheit übernehmen wird. In der Krise sieht die Koalition aber auch die Chance, Deutschland zum weltweit führenden Biotech-Standort zu machen. Die Entwicklung des ersten mRNA-Impfstoffs habe das Potenzial deutscher Forschung sichtbar gemacht.
„Wir haben Lust auf Neues“, steht im Koalitionsvertrag. Technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft sollen befördert werden. Neben dem klaren Bekenntnis zum 3,5-%-Ziel beim Anteil der Forschungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt erhoffen sich die Parteien einen „erfolgreichen Aufbruch in ein Innovationsjahrzehnt“. Dazu wollen sie etwa die Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI) gründen, die soziale und technologische Innovationen pushen soll.
Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie geplant
Zur Förderung der Kreislaufwirtschaft ist eine „Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie“ vorgesehen, die bestehende, rohstoffpolitische Strategien bündeln soll. Produkte müssen langlebig, wiederverwendbar, recycelbar und möglichst reparierbar sein. Dazu werde die erweiterte Herstellerverantwortung auf EU-Ebene gestärkt. Digitale Produktpässe sollen die Unternehmen bei der Umsetzung stärken.
Ein Anreizsystem zur umweltgerechten Entsorgung bestimmter Elektrogeräte und Batteriesysteme ist ebenso vorgesehen wie die Verringerung der Retourenvernichtung.
Höhere Recyclingquoten, eine EU-weite produktspezifische Mindestquote für den Einsatz von Rezyklaten, chemisches Recycling: Der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE) begrüßt das Bekenntnis der Ampelkoalition zur Kreislaufwirtschaft und fordert, die angekündigte Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie als eine Art deutscher Green Deal schnellstmöglich auf den Weg zu bringen.
Der Verband der chemischen Industrie (VCI) begrüßt, dass die Koalition Biotechnologie und Wasserstoff als Schlüssel für das Gelingen der Transformation anerkennt und chemisches Recycling als Recyclingoption aufnimmt.
Klimaschutz und Energie werden zu Querschnittsthemen
Kein anderes Thema war so dominant im Wahlkampf und so relevant für dessen Ausgang. Es zieht sich als Querschnittsthema überall durch – vom Verkehr über Bauen und Wohnen hin zu Industrie sowie Landwirtschaft. Seine Bedeutung zeigt sich am neuen Megaministerium für Wirtschaft, Klima und Energie, das Grünen-Co-Chef Robert Habeck leiten soll. Die Kernpunkte der neuen Bundesregierung in Sachen Klima und Energie finden Sie im Kasten.
Mit Blick auf die Entwicklung von Arzneimitteln, einem wichtigen Zweig der Branche, begrüßt der VCI das klare Bekenntnis für eine innovative Gesundheitswirtschaft der Ampel. Diese sollte aber nicht durch Subventionen, sondern durch wettbewerbsfähige Produktions- und Erstattungsbedingungen erreicht werden. „Gerade in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig ein starker Pharmastandort Deutschland ist“, sagt VCI- Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup.
Lob für Pläne zur Digitalisierung der Republik
Ein Digitalministerium gibt es nicht, daher ist Oliver Süme, Chef des Internetverbands Eco, nicht so recht zufrieden. Die neue Bundesregierung wolle „das historische Momentum zu einer Neuausrichtung der Digitalpolitik in Deutschland offenbar nicht nutzen. Dafür steht aber jede Menge „digital“ als Querschnittsthema im Koalitionsvertrag. Verwaltung und Staat werden digital, die Landwirtschaft auch. Die Nachhaltigkeit soll von der Digitalisierung ebenso profitieren wie Hochschulen, das Gesundheitswesen und die Polizeiarbeit. Die Kluft zwischen Stadt und Land soll dadurch kleiner werden.
Das begrüßt u. a. der VATM, der Verband, in dem sich die Netzbetreiberkonkurrenten der Telekom formiert haben. „Das Bekenntnis zum eigenwirtschaftlichen Ausbau, die Digitalisierung der Verwaltung, schlanke Genehmigungsverfahren, die Normierung alternativer Verlegetechniken sowie verbesserte Markterkundungsverfahren sind im Vertrag festgeschriebene Ziele, die den Gigabitausbau deutlich voranbringen können“, lobt VATM-Geschäftsführer Jürgen Grützner.
Achim Berg vom Branchenverband Bitkom wertet viele Punkte des Vertrags positiv: „Noch im ersten Jahr soll der Digitalpakt Schule beschleunigt und von bürokratischem Ballast befreit werden, was auch unbedingt nötig ist, damit die Milliarden endlich bei den Schulen ankommen.“ Lob auch für den angekündigten Digitalisierungscheck, den alle neuen Gesetze durchlaufen sollen. Mit dem neuen Ministerium für Verkehr und Digitales (übernommen von der FDP) erhalte die Digitalisierung erstmals einen festen Platz am Kabinettstisch.
Industrie: „Aufwachen aus dem Dornröschenschlaf“
„Wenn die Digitalisierungsvorhaben so umgesetzt werden, erwacht Deutschland endlich aus seinem Dornröschenschlaf“, argumentiert Wolfgang Weber, Vorsitzender der Geschäftsführung des Verbands der Elektroindustrie (ZVEI). Es sei richtig, dass die Koalition explizit die Stärkung und den Ausbau von Halbleiterentwicklung und Halbleiterproduktion in Deutschland finanziell unterstützen werde. Schließlich sei sie Grundvoraussetzung für grüne und digitale Transformation, für Industrie 4.0, intelligente Mobilität und eine smarte Energiewende. Auch im Maschinenbauverband VDMA sieht man den Koalitionsvertrag als „eine gute Basis für die anstehenden Transformationsprozesse“. VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann befürwortet, dass die Koalition Voraussetzungen für mehr Innovation und höhere private Investitionen schaffen möchte. „Hier vermissen wir aber im Kapitel zur Steuerpolitik klare Impulse“, sagt er.
Genau diesen „industriellen Mittelstand“ sieht der Wirtschaftsverband Stahl- und Metallverarbeitung (WSM) bei allen positiven Aspekten im neuen Koalitionsvertrag allerdings nicht ausreichend berücksichtigt. Als Fortschritt bewertet die Branchenvereinigung beispielsweise zwar die Abschaffung der EEG-Umlage. Denn der Industriestrompreis in Deutschland sei längst nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Entlastung von staatlichen Abgaben und Umlagen reicht den Stahl- und Metallverarbeitern allerdings nicht: „Leider hat die Politik die Chance verpasst, das Brennstoffemissionshandelsgesetz – dessen CO2-Preis den produzierenden Mittelstand nur in Deutschland besonders belastet – in ein europäisches System zu überführen“, erklärte der WSM-Hauptgeschäftsführer Christian Vietmeyer. Nur dadurch könnten zumindest in Europa faire Wettbewerbsbedingungen erreicht werden, die ein Abwandern der Industrie verhinderten.
Erleichterung in Brüssel über das rasche Zustandekommen der Ampelkoalition
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kritisiert, dass die neue Koalition insgesamt die richtigen Aufgabenstellungen benenne, es aber aber an konkreten Lösungsvorschlägen mangele. Viel Zustimmung kommt vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Wer aber mehr Fortschritt wagen wolle, dürfe sich nicht vor einer gerechten Steuerpolitik drücken. „Dazu haben sich die zukünftigen Ampelkoalitionäre nicht durchringen können. Das ist eine zentrale Schwachstelle.“
Mobilität und Infrastruktur: Vorfahrt für die Bahn
Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur war seit 2009 fest in den Händen der CSU, davor bestimmten fünf SPD-Minister das Amt. Jetzt sollten andere Parteien frischen Wind bringen. Gewonnen hat die FDP: Volker Wissing, bis Frühjahr des Jahres Landesminister in Rheinland-Pfalz. Er stellte die Koalition mit den Grünen bereits am Tag seiner Nominierung auf eine harte Probe. Gegenüber der Bild-Zeitung machte sich Wissing dafür stark, „dass höhere Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe durch geringere Kfz-Steuern ausgeglichen werden“ und wurde als „Anwalt der Autofahrer“ betitelt.
Der Koalitionsvertrag liest sich etwas anders. Die 2020er-Jahre sollen zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik genutzt werden und um eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen – mit Fokus auf die Schiene. So soll der Masterplan Schienenverkehr weiterentwickelt und zügiger umgesetzt werden. Der Schienengüterverkehr soll bis 2030 auf 25 % gesteigert und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppelt werden. Was nichts anderes heißt als: Es wird erheblich mehr Geld für die Schiene ausgegeben werden, als für die Straßen.
Bei den Bundesfernstraßen möchte die Koalition den Fokus auf Erhalt und Sanierung legen. Die Bahn soll zum Verkehrsmittel der Zukunft werden.
Wohnen: Wichtigste soziale Frage unserer Zeit
Der Bausektor bekommt sein eigenes Ministerium. Am bisherigen Innenminister Horst Seehofer, der zugleich auch Bauminister war, ließen Experten aus allen Richtungen kein gutes Haar. Unter seiner Egide kam es zu rasant steigenden Kauf- und Mietpreisen, obwohl er immer betonte, Wohnen sei die wichtigste soziale Frage unserer Zeit. Doch die zugesagten 1,5 Mio. neuen Einheiten blieb Seehofer schuldig, schlimmer noch: Die Sicherung bestehender günstiger Mietwohnungen in Ballungszentren ging schief, Zehntausende Sozialwohnungen fielen aus der Preisbindung, es kamen zu wenige neue hinzu. Das alles soll besser werden. Die SPD soll wieder Schwung in die Bude bringen, die bisherige Umweltministerin Svenja Schulze ist als Bauministerin im Gespräch.
Bildung: Fit machen für den internationalen Wettbewerb
Digitalisierung ist auch hier Trumpf – mit dem Bundesprogramm „Digitale Hochschule“ soll der Ausbau von innovativer Lehre, Qualifizierungsmaßnahmen, digitalen Infrastrukturen und Cybersicherheit sichergestellt werden.
In den vergangenen Jahren wurde die Kritik an prekären Arbeitsbedingungen im Wissenschaftssystem immer lauter. Mit der Schaffung alternativer Karrierewege in Lehre und Forschung will die Politik ein berufliches Sicherheitsnetz einbauen. „Wir wollen die Vertragslaufzeiten von Promotionsstellen an die gesamte erwartbare Projektlaufzeit knüpfen und darauf hinwirken, dass in der Wissenschaft Dauerstellen für Daueraufgaben geschaffen werden“, heißt es im Koalitionspapier.
Um im internationalen Wettbewerb um exzellente Wissenschaft bestehen zu können, sollen bürokratische Hürden für internationale Talente abgebaut werden. Eine Plattform soll die Rekrutierung von internationalen Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern fördern. Dem Deutschen Hochschulverband (DHV), die Berufsvertretung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zufolge, setzt der Koalitionsvertrag, „richtige hochschulpolitische Akzente“. Vor allem das Versprechen, jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlässlichere und attraktivere Karrierewege einzuräumen. Trotz guter Ansätze kritisiert der fzs (freier Zusammenschluss von student*innenschaften) den Trend „zur weiteren Ökonomisierung der Hochschulen. Diese gehen zulasten der Qualität der Lehre“.
Als „Zentrale Zukunftsfelder“ in der Forschung finden sich im Koalitionsvertrag u. a. folgende Punkte: wettbewerbsfähige und klimaneutrale Industrie, saubere Energiegewinnung- und -versorgung, nachhaltige Mobilität, Biodiversität, nachhaltiges Landwirtschafts- und Ernährungssystem sowie krisenfestes und modernes Gesundheitssystem. Zudem sollen die Potenziale der Digitalisierung weiter gehoben werden, und das „durch alle Sektoren“. Und schließlich steht oben auf der Agenda die Erforschung von Weltraum und Meeren sowie gesellschaftliche Resilienz, Geschlechtergerechtigkeit, Zusammenhalt, Demokratie und Frieden. Für Krisensituationen wie Pandemien und „prioritäre Handlungsfelder“ denkt die neue Regierung an vereinfachte und beschleunigte Verfahren der Forschungsförderung. „Wir werden Bürokratie in Forschung und Verwaltung durch Shared-Service-Plattformen, Synergiemanagement und effizientere Berichtspflichten abbauen.“
Zur Stärkung digitaler Unterrichtsangebote in den Schulen hält es die neue Regierung für unerlässlich, näher als früher vor Ort zu sein. Zur Unterstützung sollen Service-, Beratungs- und Vernetzungsangebote geschaffen werden.
Digitalpakt 2.0 für die Schulen
„Gemeinsam mit den Ländern werden wir einen Digitalpakt 2.0 für Schulen mit einer Laufzeit bis 2030 auf den Weg bringen, der einen verbesserten Mittelabfluss und die gemeinsam analysierten Bedarfe abbildet.“ Dieser Pakt soll auch die Neuanschaffung von Hardware, den Austausch veralteter Technik sowie die Gerätewartung und Administration umfassen.
So sollen bedürftige Schülerinnen und Schüler stärker unterstützt werden. Zudem sollen Bund und Länder intensiver kooperieren, um etwa den Austausch von Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten zu fördern.
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) begrüßt die Pläne, professionelle IT-Unterstützung an den Schulen bereitzustellen: „Es ist ein gutes Zeichen, dass dies nun auch so im Koalitionsvertrag festgehalten wurde. Wir haben in Sachen Digitalisierung keine Zeit zu verlieren.“
Arbeit: Fokus auf dem lebenslangen Lernen
Die neue Bundesregierung legt viel Wert auf lebenslanges Lernen. In zentraler Position dabei: die Bundesagentur für Arbeit (BA). Sie soll mit den regionalen Akteuren im Kontakt stehen. „Dafür bauen wir die Weiterbildungsverbünde aus und unterstützen den Aufbau von Weiterbildungsagenturen“, steht im Koalitionsvertrag. Durch Verzahnung soll der Zugang zu Weiterbildungsangeboten sowie Förderinstrumenten transparenter werden. Mit einem ans Kurzarbeitergeld angelehnten Qualifizierungsgeld soll die BA Unternehmen im Strukturwandel ermöglichen, die Beschäftigten durch Qualifizierung im Betrieb zu halten und Fachkräfte zu sichern.
Weitere Punkte: Zu Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassungen bekennt sich die Koalition ausdrücklich, sie seien „notwendige Instrumente“. Digitale Plattformen seien zukunftsweisend, aber auf juristische Fallstricke zu untersuchen. Dazu sollen die Datengrundlagen verbessert werden. Bei der Gestaltung von KI in der Arbeit „setzen wir auf einen menschzentrierten Ansatz, soziale und wirtschaftliche Innovation ebenso wie Gemeinwohlorientierung“.
Renten und Finanzen: Schuldenbremse greift erst wieder 2023
Die Wahlkampfforderungen der FPD nach Steuersenkungen und der Abschaffung des Solis auch für Spitzenverdiener und die Pläne der anderen Koalitionäre für eine Vermögenssteuer sowie höhere Steuern für Reiche neutralisieren sich. Alles bleibt beim Alten.
Rentenbeiträge können aber bereits 2023 als Sonderausgaben von der Steuer abgesetzt werden, nicht erst 2025 wie bisher vorgesehen. Das entlastet sozialversicherungspflichtige Beschäftigte um rund 4 Mrd. €. Die nachgelagerte Besteuerung der Renten wird gestreckt. Erst 2060 müssen Rentenauszahlungen voll versteuert werden.
Der Einstieg in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung ist zwar geplant. Die dafür vorgesehenen 10 Mrd. € aus dem Bundeshaushalt sind allerdings angesichts der knapp 80 Mrd. € an Zuschüssen in die Rentenkasse insgesamt eher niedrig angesetzt.
Auch der Sparerfreibetrag wird eher zaghaft erhöht. Kapitalerträge bis 1000 € bleiben künftig von der Abgeltungssteuer verschont (statt 801 € bislang). Da die letzte Anpassung des Pauschbetrags bereits 2009 erfolgte, ist die Anpassung nicht mehr als ein Inflationsausgleich. Die Regelung greift zudem erst 2023.
Trotz solcher Rücksichtnahmen auf den Haushalt strebt die Koalition erst 2023 wieder die Einhaltung der Schuldenbremse an. Zudem wird die Tilgung der Schulden aus der Corona-Krise reduziert.