Wie die Ukraine unter Massenmord, Hunger und Zwangsarbeit litt
Timothy Snyder, Anne Applebaum und Philippe Sands arbeiten die Leidensgeschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert auf. Wer das Land verstehen will, sollte ihre Bücher kennen.
In Bloodlands schildert Timothy Snyder den Massenmord in der Ukraine unter Hitler und Stalin
Fünf Wochen bevor Russland seinen Angriffskrieg begann, versicherte Außenministerin Annalena Baerbock, Deutschland könne „aus historischer Verantwortung“ keine Waffen an die Ukraine liefern. Dass sich deutsche Waffenlieferungen in das seit einem Jahr schwer geprüfte Land gerade mit historischer Verantwortung begründen lassen, hätte Baerbock damals dem bereits 2010 erschienenen Buch „Bloodlands“ entnehmen können. Der US-Historiker Timothy Snyder beschreibt in seinem jüngst in der achten Auflage erschienenen Buch den Massenmord an 14 Mio. Menschen, den die Diktatoren Stalin und Hitler in einem vom Baltikum über Polen und Weißrussland bis in die Ukraine reichenden Gebiet anrichteten. Wohlgemerkt, die direkten Opfer von Kriegshandlungen, besonders im Zweiten Weltkrieg, sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.
In den Bloodlands litt die Ukraine am schlimmsten
Am furchtbarsten von allen Regionen in den Bloodlands hat die Ukraine leiden müssen, weshalb Snyders ihrem Leidensgang einen großen Teil seines Buches widmet.
So ließ Stalin in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine 3,3 Mio. Menschen verhungern. Diesen als Holodomor bezeichneten massenhaften Hungertod hat der Bundestag im November 1922 als Völkermord anerkannt. Die Katastrophe sei keine Folge von Missernten gewesen, sondern von der politischen Führung der Sowjetunion unter Josef Stalin verantwortet worden, hieß es in der Entschließung. Der Holodomor stelle demnach ein „Menschheitsverbrechen“ dar.
Während des sogenannten Großen Terrors nur vier Jahre später wurden rund 70 000 Ukrainer und Ukrainerinnen auf Geheiß des sowjetischen Diktators erschossen, hauptsächlich angebliche „Kulaken“ (Großbauern), Oppositionelle und Kriminelle. Timothy Snyder zufolge war das Ziel dieser beiden Mordkampagnen die Kolonisierung des Landes, „eine politisch gesäuberte, ausgehungerte, kollektivierte und terrorisierte Ukraine‚ (die) zur Ernährung der industrialisierten Sowjetunion benutzt werden sollte“ – eine Vorstellung, die in den Reden und Aufsätzen Wladimir Putins nachhallt, wenn er der Ukraine die staatliche Eigenständigkeit abspricht und ihre Entnazifizierung ankündigt.
Im Zweiten Weltkrieg starb ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung
Dem sowjetischen Terror folgte die deutsche Schreckensherrschaft, die im Holocaust mit seinen 6 Mio. jüdischen Opfern gipfelte. 2,5 Mio. Ukrainerinnen und Ukrainer mussten Zwangsarbeit für die deutsche Kriegswirtschaft und Landwirtschaft leisten. Weil die Wehrmacht die Lebensmittel für ihre Soldaten requirierte, verhungerten in Kiew rund 20 000 Menschen, in Kharkow 50 000. Insgesamt ermordeten SS und Wehrmacht 5 Mio. ukrainische Zivilisten, Frauen und Kinder. Während des Zweiten Weltkriegs starb ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung – darunter 3,5 Mio. Soldaten, die in der Roten Armee für das Ende des deutschen Vernichtungskrieges fielen.
Drei Buchtipps zur Zeitenwende
Snyders Thesen haben zum Teil heftige Kritik in den Geschichtswissenschaften geerntet, besonders wegen der Gleichsetzung von Hitlers und Stalins Terrorherrschaft, aber auch wegen der willkürlichen geografischen Festlegung der Bloodlands. Sie lässt etwa die russischen Gefallenen der Roten Armee und das Massensterben in den Gulags außen vor. Trotzdem: Wer sich über das Leid der Ukraine im 20. Jahrhundert und die deutsche Mitschuld daran informieren will, kommt an Bloodlands nicht vorbei.
Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. dtv, 8. aktualisierte Auflage 2022, 16,90 €
Timothy Snyder hat seine Vorlesungen zur Geschichte der Ukraine auf Youtube hochgeladen:
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Anne Applebaum erklärt den Holodomor, den millionenfachen Hungertod in der Ukraine
Anne Applebaum, bereits 2004 mit dem Pulitzer-Preis für ihre Arbeiten über Stalins Straflager („Gulag“) ausgezeichnet, hat mit „Roter Hunger“ 2017 ein Standardwerk über die schreckliche Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 veröffentlicht. Applebaum skizziert den Weg von Lenins Tod 1924 bis zu den grauenhaften Elendsjahren anhand zahlreicher Augenzeugenberichte und teilweise erst jüngst zugänglich gewordener Dokumente nach. Es ist eine Geschichte der verfehlten sowjetischen Agrarpolitik, die im vermeintlichen Kampf gegen Großbauern (sogenannte Kulaken) die bestehenden landwirtschaftlichen Strukturen zerschlug und die zwangskollektivierte Bauernschaft dann mit so hohen Abgabenquoten überforderte, dass das System schließlich kollabierte.
Stalin trieb den Ausbau der sowjetischen Schwerindustrie radikal voran
Zu den Verdiensten von Applebaums Buch gehört es auch, aufzuzeigen, in welch paranoidem Alarmzustand sich die Sowjetunion unter Josef Stalin bereits in den frühen 1930er-Jahren befand. In der ständigen Furcht vor der Konterrevolution oder einem unmittelbar bevorstehenden Überfall des imperialistischen Westens wurde der planwirtschaftliche Ausbau der Schwerindustrie radikal vorangetrieben. Die dafür nötigen Devisen erwirtschaftete die Sowjetunion zu guten Teilen mit der Ausfuhr von Getreide. Die sogenannten „Hungerexporte“ gingen auch dann noch weiter, als sich die Meldungen über Elendszustände insbesondere in der ausgepressten Ukraine und in Kasachstan mehrten.
Rund 80 % der Toten der Hungerkatastrophe 1932/33 entfallen auf die Ukraine
Applebaum schildert Berichte über Bauern, die zunächst in der Not gezwungen waren, ihr Vieh zu schlachten, weil sie es nicht mehr füttern konnten, später selbst das Saatgut abliefern mussten, um der Repression der Sowjetmacht zu entgehen, ehe schließlich 1933 das Straßenbild von Kindern mit aufgeblähten Hungerbäuchen und in den Straßen verendeten Menschen geprägt war. Fälle von Kannibalismus sind ebenso dokumentiert wie brutale Gewalttaten im Kampf um geringste Nahrungsrationen. Insgesamt sind der Katastrophe, die von schlechten Witterungsbedingungen und zusätzlichen Ernteausfällen begünstigt wurde, rund 5 Mio. Menschen zum Opfer gefallen. 80 % davon allein in der Ukraine. Dort gilt der von Stalin in Kauf genommene „Holodomor“, ukrainisch für „Tod durch Hunger“, weithin als Völkermord. Anne Applebaum ist eine Anhängerin dieser These, die in den Geschichtswissenschaften umstritten ist, auch wenn sich der Bundestag mit seiner Entschließung (siehe oben) ihr angeschlossen hat.
Zweifellos standen die ukrainischen Bauern bei den Sowjets in Moskau im Verdacht, den „Aufbau des Sozialismus“ zu sabotieren. In der Ukraine hatte sich besonders lange der Widerstand gegen die Revolution gehalten, es hat auch 1918 den Versuch gegeben, einen eigenen Ukrainischen Staat zu gründen. Infolgedessen lancierte Stalin Ende der 1920er-Jahre eine strikte Politik der Russifizierung, im Zuge derer ukrainische Schulen und Kirchen geschlossen und die ukrainische Sprache aus der Öffentlichkeit verdrängt wurde. Das Ziel einer Auslöschung des ukrainischen Volkes, das die Verwendung des Genozidbegriffes rechtfertigt, kann aber auch Applebaum nicht zwingend nachweisen.
Der Holodomor prägt das Verhältnis von Russen und Ukrainern bis heute
Aufschlussreich ist das Buch über den „Holodomor“, der erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nach und nach aufgearbeitet wird, aber in jedem Fall. Er hat das Verhältnis der Ukrainer zum vermeintlichen „Brudervolk“ Russland so nachhaltig erschüttert wie sonst vermutlich nur noch der Umgang mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986.
Anne Applebaum: Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine. Siedler 2019, 38 €
In dieser Sendung des SRF analysiert Anne Applebaum, inwieweit die aktuellen Entwicklungen in Osteuropa bis heute von dessen totalitärer Vergangenheit geprägt sind:
Philippe Sands erklärt, wie Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Straftat wurden
Erschießungen von Zivilisten, Verschleppung von Kindern, Zerstörung von Museen und Denkmälern: Diese Verbrechen sind Indizien dafür, dass Russland auch aktuell einen Genozid in der Ukraine begeht. Doch welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit solche Taten juristisch nicht nur als Kriegsverbrechen, sondern als Genozid gewertet werden? Aufklärung dazu geben völkerrechtliche Abhandlungen, deren Juristendeutsch (und vor allen Dingen -englisch) für Laien schwer verständlich ist. Eine ebenso unterhaltsame – man mag es bei diesem Thema kaum schreiben – wie fachlich hochstehende Einführung gibt das Buch von Philippe Sands. Als „große juristische Kunst und wahnsinnig spannend zu lesen“, lobt die Osteuropahistorikerin Gabriele Woidelko Sands‘ Werk. Der Londoner Rechtswissenschaftler hat sich in Prozessen und Veröffentlichungen immer wieder mit Gewalt und Menschenrechtsverletzungen auseinandergesetzt, etwa mit dem US-Gefangenenlager Guantanamo Bay.
Auf das Thema seines auf Englisch erstmals 2016 erschienenen Buches kam Sands per Zufall: Im Jahr 2010 hatte ihn die Universität von Lwiw zu einem Vortrag eingeladen, um die Straftatbestände „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ voneinander abzugrenzen. Bei den Recherchen entdeckte Sands zum einen, dass Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin – die beiden Juristen, die diese Begriffe entwickelt hatten – damit in der Zwischenkriegszeit in Lwiw begonnen hatten. Während sie ihre Arbeit in den USA bzw. Großbritannien fortsetzen konnten, wurden ihre Familien im Holocaust ausgerottet. Und zum anderen, dass Sands Familiengeschichte mit Lwiw verknüpft ist, seine jüdischen Vorfahren dort Diskriminierung und Terror ausgesetzt waren.
Raphael Lemkin entwickelte den Begriff „Genozid“
„Für Lemkin lag der Fokus auf Genozid“, erklärt Sands die entscheidenden Unterschiede zwischen den Begriffen, „der Ermordung vieler Menschen mit der Absicht, die Gruppe auszulöschen, zu der sie gehören. (…) Um Genozid zu beweisen, muss man belegen, dass die Mordtaten mit der Absicht begangen wurden, die Gruppe zu vernichten, während dies für Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nötig ist.“ Für letzteren Straftatbestand hatte sich Lauterpacht stark gemacht. Ihm und Lemkin gelang es, dass beide Straftatbestände in den Nürnberger Prozessen eingingen. Endgültig festgelegt wurden sie in einer UN-Konvention (Genozid) und im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (Verbrechen gegen die Menschlichkeit).
Die Stärken und Schwächen des Flugabwehrpanzers Gepard im Ukrainekrieg
Als Sands‘ Buch im Jahr 2016 erstmals auf Englisch erschien, hatte Putin zwei Jahre zuvor den Krieg in der Ostukraine angezettelt und die Besetzung der Krim befohlen. Nun haben die Ausführungen zu Genozid und Massenmord neue und traurige Aktualität gewonnen.
Philippe Sands: Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Fischer Taschenbuch, 4. Auflage 2019, 592 S., 15 €
In diesem Interview im Jüdischen Museum Frankfurt erzählt Philippe Sands vom Inhalt und der Entstehung seines Buches: