EUKO 2024 04. Nov 2024 Volker M. Banholzer Lesezeit: ca. 6 Minuten

Zukunftsgestaltung braucht Denken in Alternativen

Szenarien, Visionen und Zukünfte brauchen Dialog und müssen diskutiert werden. In Nürnberg haben Ende Oktober die Initiative D2030 und der VDI solche Verfahren vorgestellt und die EnBW eine praktische Anwendung präsentiert.

Prof. Dr. Bita Fesidis, Projektleiterin VDI-Initiative „Zukunft Deutschland 2050“
Foto: Anna Wintermayr

Der Plural „Zukünfte“ mag irritieren, trifft den Gegenstand aber exakt. Um heute Weichen für F&E, Projekte oder Märkte gut stellen zu können, müssen sich Unternehmen, Organisationen oder die Politik mit möglichen Zukünften, mit plausiblen Szenarien und Visionen auseinandersetzen. Diese müssen kritisch diskutiert, abgewogen und in wünschenswerte oder zu vermeidende Zustände eingeteilt werden. Daraus ergeben sich dann Maßnahmen, Entscheidungen und Pfade.

Auf der EUKO-Konferenz an der Technischen Hochschule Nürnberg haben die Initiative D2030 die Szenario-Studie „Neue Horizonte 2045“, der VDI seine Initiative „Zukunft Deutschland 2050“ und der Energiekonzern EnBW das „EnBW AG Zukunftsbild 2045“ als Praxisbeispiele vorgestellt. Verwendet die EnBW AG das Szenario-Management nur für die konzerninterne Diskussion, geht es D2030 und der VDI-Initiative explizit auch um einen gesellschaftlichen Diskurs. Denn: Zukunft ist beeinflussbar.

„Zukunft“ ist als Schlagwort derzeit weit oben auf der Agenda, allerdings eher negativ. Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland wird angesichts vielfältiger Herausforderungen intensiv debattiert, und die Krise der Automobilindustrie, die Klimakrise mit den aktuellen Ereignissen in Südeuropa oder der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bilden Facetten des Hintergrunds. Aber auch die Transformation der Energiesysteme oder die neuen Perspektiven durch Technologien wie künstliche Intelligenz sind Themen, die wohlüberlegte Weichenstellungen erfordern. Nur welche? Für die Beantwortung dieser Frage soll der Dialog oder die Debatte über plausible Szenarien sowie wünschenswerte oder zu vermeidende Zukünfte geführt werden.

Abwägen jenseits der Tagespolitik

Wenn Unternehmen, Organisationen oder Institutionen der Zivilgesellschaft und der Politik „mehrere Jahre in die Zukunft blicken wollen, dann reicht eine einfache Prognose nicht aus, sondern dann spricht man von möglichen Szenarien oder Zukünften“, erläutert Alexander Fink. Fink ist Strategieberater sowie Vorstand der ScMI Scenario Management International AG und hat maßgeblich an der Studie „Zukunft für Deutschland mitgewirkt. „Zukunft ist immer gestaltbar“, begründet Fink und: „Jeder denkt täglich über Zukunft nach.“

Sieben Szenarien der Studie „Neue Horizonte 2045“. Foto: D2030

Dieses Nachdenken wird in einem Szenario-Prozess systematisiert. Ausgehend von Fragen an die Zukunft, über die Bestimmung von Schlüsselfaktoren bis hin zur Verdichtung zu möglichen Szenarien der Zukunft. Dieses Vorgehen liegt auch der Studie „Neue Horizonte 2045“ zugrunde. Die leitende Frage hier lautete nach Fink: „Was können wir wollen?“, weil gerade bei der Diskussion um vermeintlich gemeinsame Ziele gerade deren Unklarheit deutlich werde. Oft gehe es gleich um Maßnahmen, darum, jetzt endlich ins „Doing“ zu kommen, in der Annahme, die Ziele stünden allen Beteiligten klar vor Augen. „Aber das ist nicht der Fall“, unterstreicht Fink. Mit den sieben Szenarien aus der Studie will die Initiative D2030 nach seinen Worten „Denkwerkzeuge“ zur Verfügung stellen, um den öffentlichen Diskurs zu befördern oder auch überhaupt erst anzustoßen. Die Szenarien sind einem aufwendigen Prozess entstanden, der Expertinnen und Experten, unterschiedliche Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft beteiligt habe.

Heute über die Zielkonflikte von morgen nachdenken

Die sieben Szenarien reichen von „Grünes Wachstum“, „Nachhaltiger Systemumstieg“ über „Radikale Kompromisse“, „Ökoliberale Transformation“ bis hin zu „Techno-Optimismus“, „Alternative Stabilitäten“ oder „Sicherheit zuerst“. Zentral sei, so Fink, dass sich die Szenarien nicht nebeneinander reihen, sondern dass es auch – teilweise ernste – Zielkonflikte gebe. „Wichtig ist, dass man offen sein muss für die Diskussion unterschiedlicher Zukünfte“, mahnt Fink an und verweist auf politische Debatten, die oft von Tabus geprägt seien. Die Szenarien in der Studie sollten gerade dieses Öffnen der Diskussion ermöglichen und den Beteiligten im Diskurs ein Abwägen jenseits von reinem „Dafür“ oder „Dagegen“ der Tagespolitik erlauben.

Gerade das Nachdenken im Heute über künftige Zielkonflikte kann anhand der Szenarien erfolgen, und vermeiden, dass man sonst später wieder tagesaktuell entscheiden müsse, so Fink. „Es geht nicht um ein neues Wahlprogramm, sondern es bleiben viele Fragen offen, die ausgehandelt werden müssen.“ Dafür will die Initiative D2030 die erarbeiteten Szenarien unterschiedlichen Akteuren in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft zur Verfügung stellen.

Zukunft unter den Bedingungen des Wettbewerbs

Auch der VDI hat sich die Zukunft vorgenommen. Die VDI-Initiative „Neue Horizonte 2045 – Missionen für Deutschland“ will technisches oder genauer ingenieurwissenschaftliches Wissen für die Gestaltung der Zukunft und auch als Hintergrund für die Dialoge um die Zukunftsgestaltung bereitstellen. Anlass, so Projektleiterin Bita Fesidis, sei die aktuelle Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft des Standorts Deutschland, wie sie der Draghi-Report oder auch der BDI-Innovationsindikator aktuell wieder ins Bewusstsein gerufen hätten. „Mit unserer Initiative wollen wir einen langfristigen Blick in die Zukunft werfen und fragen, was sind die zentralen Zukunftsfelder, die Schlüsselbranchen und -technologien, um die Wertschöpfung in Deutschland zu halten und Wohlstand sichern zu können“, erläutert Fesidis.

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Aus diesem positiven Zielbild müssten dann die Rückschlüsse auf notwendige Schritte im Heute gezogen werden, für Ressourcenbereitstellung, notwendige Entwicklungen und Infrastrukturen. „Zukunft Deutschland 2050 klingt zwar relativ weit weg, aber wir sind der Überzeugung, dass die Weichen jetzt gestellt werden müssen.“ Ein Beispiel sei der Fachkräftemangel, der jetzt zu spüren ist. Deshalb sei in der Initiative das Thema Qualifikation und Qualifikationssicherung ein wesentlicher Punkt, einschließlich der notwendigen Kompetenzen zum Beispiel für zukünftige Anforderungen durch künstliche Intelligenz.

Gesellschaft einbeziehen

Ausgangspunkt der Initiative war die sogenannte „Metastudie Zukunft Deutschland 2050“, in der Ergebnisse vorhandener Stellungnahmen, Empfehlungen der EFI-Expertenkommission oder Indices zusammengefasst wurden. Auf dieser Basis, so Fesidis, werde das Zielbild 2050 aktuell entwickelt. Gestartet ist die Initiative jüngst mit dem Themenbereich „Gesundheit“, in dem jetzt zusammen mit zahlreichen Akteuren aus der Medizintechnik und den Gesundheitswissenschaften Visionen entwickelt und erfolgskritische Faktoren der Technikentwicklung sowie der ökonomischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen definiert würden.

„Aber auch die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz spielt eine wichtige Rolle“, unterstreicht Fesidis, und formuliert den Anspruch analog zur Initiative D2030. „Wie können wir sicherstellen, dass Transformations- und Innovationsprozesse von der Gesellschaft mitgestaltet werden, das heißt, wie kann Gesellschaft besser einbezogen werden?“, das sei eine überaus wichtige Perspektive, so Fesidis. Für diese Entwicklungsschritte nutzt der VDI nach den Worten der Projektleiterin einerseits die Kraft der Mitglieder im Verein Deutscher Ingenieure und dessen Unterorganisationen in den Regionen oder der Young Engineers, aber eben auch den Dialog mit Zielgruppen außerhalb, etwa mit NGOs oder Politikvertretern.

Disruptionen mitdenken

Auf dem Weg zu diesen Zielbildern sind Disruption und Störungen unvermeidlich. Deshalb spreche der VDI auch von einer Initiative und einem Prozess, der auf einem fortwährenden Dialog mit den unterschiedlichen Gruppen basiere. Mit Blick auf den Dialog ist es Fesidis wichtig, gerade viele junge Zielgruppen einzubeziehen. Es gehe um den langfristigen Blick und die Integration vieler Menschen, die sich damit auseinandersetzen, welche Technologien und Entwicklungen relevant werden. Es gehe im Ansatz der VDI-Initiative nicht darum, eine Wahrheit zu formulieren, so sieht die Welt 2050 aus, sondern darum, „ein positives Zielbild zu entwickeln, womit sich die Gesellschaft, der VDI, die Partner identifizieren können“, weil es als wünschenswert für sich selbst und die eigenen Kinder wahrgenommen wird. Auf dieser Basis gelte es, die Wege dorthin zu definieren, so Fesidis.

Szenarien auch in Unternehmen wichtig

Wie wichtig Szenarien und Zukunftsbilder auch für die interne Kommunikation von Unternehmen sind, das zeigt das „Zukunftsbild 2045“, das der Energieversorger EnBW Energie Baden-Württemberg AG für die interne Kommunikation nutzt. Die EnBW stehe vor der Herausforderung, als sogenannter vollintegrierter Energieversorger mit vielen Tochterunternehmen eine gemeinsame Vorstellung über die Ziele in der Zukunft zu entwickeln, so Leonie Greck, Managerin für Energiewirtschaft und Positionierung bei der EnBW AG.

„Insbesondere in der aktuellen Transitionsphase, die auch geprägt ist durch Abhängigkeiten von externen Entscheidungen, ist es für die EnBW notwendig, ein gemeinsames Zielbild zu verfolgen und auf allen Wertschöpfungsstufen koordiniert zu handeln“, erläutert Greck. Eine Vision für einen plausiblen Pfad zur Erreichung gesteckter Ziele erleichtere es für das Unternehmen, sowohl interne Entscheidungs- und Strategieprozesse als auch das Auftreten gegenüber externen Stakeholdern zu gestalten. Neben den eigenen Marktmodellierungen beziehe das Zukunftsbild 2045 aber auch die gesamtgesellschaftlichen Prozesse mit ein, betont Greck. Und sie unterstreicht, das Zukunftsbild als Instrument habe sich jetzt über zwei Jahre hinweg etabliert und werde als Instrument für Visions-, Strategie- und Kommunikationsprozesse intensiv genutzt. Aber auch das Zielbild selbst ist einem stetigen Aktualisierungsprozess unterworfen. Politische oder gesellschaftliche Entscheidungen würden regelmäßig eingearbeitet. Derzeit sei ein wesentliches Thema der Energiebedarf der Industrie, so Greck.

Das Instrument Szenarios oder Zukunftsbild erscheint aus Sicht sowohl der beiden Initiativen – D2030 mit der Szenario-Studie „Neue Horizonte 2045“ und VDI-Initiative „Zukunft Deutschland 2050“ –  als auch aus der unternehmensinternen Betrachtung von EnBW als sinnvoll, um Ziele partizipativ zu diskutieren und eine Basis für Entscheidungen mit Blick auf Entwicklungspfade fundiert treffen zu können. Den drei Beispielen ist gemeinsam, dass es sich um Prozesse handelt, die Dialoge anstoßen. Denn, wie die Projektleiterin beim VDI, Bita Fesidis, es formuliert: „Die Zukunft kann keiner von uns vorhersagen.“ Aber durch die Diskussion um Ziele und Szenarien können wir sie mitgestalten.

Der Verfasser des Berichts Volker M. Banholzer ist Professor für Innovationskommunikation an der Technischen Hochschule Nürnberg und ist Mitglied des Forschungsnetzwerks EUKO.

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