Arbeitsrecht 20. Apr 2023 Von Claudia Burger Lesezeit: ca. 7 Minuten

Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung: „Unternehmen haben akuten Handlungsbedarf“

Der Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung liegt vor. Rechtsanwältin Jacqueline Piran ordnet den Vorschlag ein, spricht über die Zukunft der Vertrauensarbeitszeit, die Rolle des Betriebsrats und gibt Unternehmen Tipps, wie sie jetzt vorgehen sollten.

Rechtsanwältin Jacqueline Piran, Partnerin im Berliner Büro der Arbeitsrechtskanzlei Ogletree Deakins in Berlin, ordnet den Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung ein. Die digitale Stechuhr ist zurzeit ein heißes Eisen in Politik, Wirtschaft und Unternehmen.
Foto: Annette Koroll Fotos

VDI nachrichten: Frau Piran, fangen wir mal ganz vorn an. Was haben EuGH und BAG eigentlich festgelegt?

Jacqueline Piran: In dem sogenannten Stechuhrurteil hatte der EuGH 2019 festgehalten, dass die EU-Mitgliedstaaten Arbeitgeber gesetzlich verpflichten müssen, die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Im Anschluss an die EuGH-Entscheidung wurde hierzulande zunächst vielfach die Auffassung vertreten, dass eine generelle Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bislang nicht bestehe, sondern zunächst erst noch der deutsche Gesetzgeber tätig werden müsste. Dieser Auffassung hat das Bundesarbeitsgericht mit einem Beschluss vom 13. September 2022 eine klare Absage erteilt. Laut BAG besteht daher schon jetzt eine gesetzliche Verpflichtung aller Arbeitgeber zur umfassenden Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten. Dies ergebe sich aus dem Arbeitsschutzgesetz, das den Arbeitgeber verpflichtet, geeignete Maßnahmen zum Gesundheitsschutz der Beschäftigten zu ergreifen.

Konkretere Vorgaben zur Ausgestaltung der erforderlichen Arbeitszeiterfassungssysteme hat das BAG in seiner Entscheidung nicht gemacht, sondern im Anschluss an den EuGH lediglich die Einführung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems zur Messung der von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit gefordert. Dazu, ob die aus dem Arbeitsschutzgesetz folgende Pflicht zur Zeiterfassung auch für leitende Angestellte und sonstige Beschäftigte gelten sollte, die vom Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes und den darin normierten Höchstarbeitszeiten und Ruhezeitregelungen schon jetzt ausdrücklich ausgenommen sind, hat das BAG in seiner Entscheidung nicht Stellung genommen. Für leitende Angestellte dürfte die Aufzeichnungspflicht aktuell aber wohl nicht gelten.

BAG: Arbeitszeit muss erfasst werden

Inwieweit geht der Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Arbeit darüber hinaus?

Der aktuelle Gesetzesentwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes geht in Teilen deutlich über das hinaus, was nach EU-Recht und BAG erforderlich wäre. So sieht er eine generelle Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung vor. Andere Formen der Zeiterfassung, beispielsweise mit handschriftlichen Stundenzetteln, sollen nach Ablauf der im Gesetz vorgesehenen Übergangsfristen nur noch ausnahmsweise zulässig sein, z. B. für Kleinbetriebe mit maximal zehn Mitarbeitenden, Privathaushalte oder aufgrund entsprechender Tarifvertragsregelungen. Für alle anderen Arbeitgeber soll die Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung gestaffelt nach Betriebsgröße spätestens binnen ein bis fünf Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes eingeführt werden. Nach dem Gesetzesentwurf müssen die Arbeitszeiten zudem täglich erfasst werden. Damit geht der Entwurf nicht nur über die Anforderungen des EU-Rechts hinaus, sondern weicht auch von anderen bereits bestehenden Regelungen zur Arbeitszeiterfassung ab. Für den Mindestlohnbereich beispielsweise kann die Arbeitszeiterfassung aktuell binnen sieben Tagen erfolgen. Solche verlängerten Fristen sollen nach dem Gesetzesentwurf künftig nur noch auf Grundlage entsprechender Tarifregelungen zulässig sein. Nach dem Entwurf sollen Verstöße gegen die Aufzeichnungspflichten künftig mit Bußgeldern von bis zu 30 000 € geahndet werden können.

Es ist noch nicht klar, ob der pauschale Abzug von Pausenzeiten ausreichen wird

Müssen auch Pausenzeiten elektronisch erfasst werden?

Ja. Hierzu enthält der Gesetzesentwurf – wie schon die BAG-Entscheidung – zwar keine direkte Aussage. Aus der Regelung, dass neben Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit auch deren Dauer aufzuzeichnen ist, dürfte aber folgen, dass auch Pausenzeiten erfasst werden müssen. Nicht ganz klar ist allerdings, ob auch die genaue Lage der Pausenzeiten dokumentiert werden muss oder ob – wie aktuell vielfach üblich – auch ein pauschaler Abzug der vorgesehenen Pausendauer mittels entsprechender Programmierung des Zeiterfassungssystems zulässig wäre.

Was bedeutet das für die Beschäftigten und Unternehmen?

Der Gesetzesentwurf stärkt deutlich die Rechte der Beschäftigten, aber auch die der Gewerkschaften, ohne die die Arbeitgeber von den im Gesetz vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten keinen Gebrauch machen können. Da die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach dem Entwurf zudem Anspruch auf Herausgabe von Kopien der Arbeitszeitaufzeichnungen haben, dürfte es ihnen in Zukunft deutlich leichter fallen, Ansprüche auf Bezahlung von Überstunden – notfalls auch gerichtlich – geltend zu machen. Auch wenn die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung theoretisch schon jetzt für alle Arbeitgeber gilt, haben viele Unternehmen – auch wegen der bislang noch fehlenden Sanktionsmöglichkeiten und mit Blick auf die noch ausstehende gesetzliche Neuregelung – bislang noch keine umfassende Arbeitszeiterfassung eingeführt. Für diese Arbeitgeber dürfte sich nach dem aktuellen Gesetzesentwurf akuter Handlungsbedarf abzeichnen, ebenso wie für die Arbeitgeber, die bislang noch keine elektronische Arbeitszeiterfassung haben bzw. die Arbeitszeiten bisher noch nicht täglich erfassen.

Wie viel Zeit haben die Unternehmen, das jetzt umzusetzen?

Nach seiner Verabschiedung soll das Gesetz – und damit auch die allgemeine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit – mit Beginn des auf die Verkündung folgenden Quartals in Kraft treten. Übergangsfristen sind lediglich für die Einführung der elektronischen Erfassungssysteme vorgesehen. Die elektronische Aufzeichnungspflicht soll für Unternehmen ab 250 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes gelten, für Unternehmen ab 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach drei Jahren und für Unternehmen ab zehn Beschäftigten nach fünf Jahren. Bis zum Ablauf dieser Fristen können die betreffenden Unternehmen die Arbeitszeiten auch in nicht elektronischer Form (z. B. handschriftlich) aufzeichnen (lassen).

Inwieweit ist der Betriebsrat mit an Bord zu holen?

Der Betriebsrat hat – wie jetzt auch schon – zwar kein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Frage, ob der Arbeitgeber überhaupt ein Zeiterfassungssystem einführt, denn dies ist ja schon gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings wird der Betriebsrat regelmäßig dann mit ins Boot zu holen sein, wenn es um Einzelheiten der Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems geht, die nicht schon verbindlich gesetzlich vorgegeben sind. Und auch soweit der Gesetzesentwurf Abweichungen und Ausnahmen von den Aufzeichnungspflichten auf Grundlage eines Tarifvertrages vorsieht, können flankierende Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebsrat erforderlich werden.

„Vertrauensarbeitszeit wird es weiterhin geben“

Für leitende Angestellte wird die Arbeitszeiterfassung auch in Zukunft nicht Pflicht sein

Sieht der Gesetzentwurf Ausnahmen vor?

Die Ausnahmeregelung des § 18 Arbeitszeitgesetz, wonach die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes auf leitende Angestellte keine Anwendung finden, bleibt unverändert bestehen. Für leitende Angestellte dürfte damit auch weiterhin keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gelten. Weitere Ausnahmen von der Aufzeichnungspflicht sind in dem Entwurf bisher aber allenfalls kryptisch und kaum praxistauglich geregelt. So soll auf Grundlage von Tarifverträgen ein Verzicht auf die Aufzeichnungspflicht vorgesehen werden können für solche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, „bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Betroffenen selbst festgelegt wird“. Ausweislich der Begründung des Gesetzesentwurfs ist hier wohl an Führungskräfte, Wissenschaftler oder sonstige Experten gedacht. Ob diese Arbeitnehmergruppen tatsächlich immer gewerkschaftlich vertreten sind, scheint fraglich. Hier wäre eine klare gesetzliche Regelung wünschenswerter.

Wer zeichnet die Daten auf? Können das auch Drittanbieter?

Die Aufzeichnungspflicht kann vom Arbeitgeber auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder auch auf Dritte delegiert werden. Ausweislich der Begründung des Entwurfs ist hier insbesondere an Vorgesetzte oder auch an Entleiherunternehmen im Falle der Arbeitnehmerüberlassung zu denken. Nach dem Wortlaut des Gesetzesentwurfs dürfte aber auch die Aufzeichnung durch sonstige Dritte möglich sein. Hierbei müsste dann aber die Einhaltung der geltenden Datenschutzbestimmungen gesondert sichergestellt werden.

Wer ist für die Daten haftbar zu machen?

Die Verantwortung für die ordnungsgemäße Zeiterfassung bleibt immer beim Arbeitgeber. Dieser muss die Aufzeichnungen mindestens zwei Jahre lang aufbewahren – wie im Arbeitszeitgesetz auch schon jetzt für die Aufzeichnung von Überstunden und Sonn- und Feiertagsarbeit vorgesehen.

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