Kommt jetzt der kostenlose Onlinezugang zu Normen?
Am 5. März 2024 soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) klären, ob harmonisierte EU-Normen frei zugänglich sein müssen. Kritiker sehen dadurch die Zukunftsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gefährdet. Ein Exkurs in die weltweite Normung.
Wer schon einmal beruflich oder für sein Studium Zugang zu einer Norm benötigte, der kennt es: Die detaillierten Ausführungen zu den Normen können sehr teuer sein. Das wollten zwei gemeinnützige Organisationen mit Sitz in den USA und Irland nicht hinnehmen. Sie verklagten die Europäische Kommission (EU-Kommission) und forderten einen kostenfreien Zugang zu harmonisierten europäischen Normen. Ihre Begründung: Im europäischen Rechtsraum müssen Gesetze grundsätzlich frei einsehbar sein. Juristisch geht es dabei im Kern um die Frage, ob Harmonisierte Technische Normen (HTN) „Gesetzesrecht“ sind. In dem Fall sind Gesetze zwingend. Dann müssen sich diese auch alle davon Betroffenen ansehen können, an was sie sich zu halten haben. Am 5. März 2024 soll das Urteil verkündet werden.
Steht das Urheberrecht bei Normen im Widerspruch zur Transparenz in der EU?
Der Hintergrund: In Deutschland und Europa werden Normen in einer öffentlich-privaten Partnerschaft erarbeitet. Finanziert wird das System unter anderem aus Mitgliedsbeiträgen der daran beteiligten Unternehmen sowie den Urheberrechten aus dem Verkauf der Normen. Ob die Urheberrechte und damit der Verkauf gerechtfertigt sind, soll nun der Prozess am Europäischen Gerichtshof (EuGH) entscheiden.
Kläger sind „Public.Resource.Org“ und „Right to Know CLG“. Das sind Nichtregierungsorganisationen, deren Ziel es ist, das geltende Recht für alle Bürger frei zugänglich zu machen. Deshalb verklagten sie unter anderem die EU-Kommission. Konkret geht es in dem Fall um den Zugang zu vier vom Europäischen Komitee für Normung (Comité Européen de Normalisation, CEN) harmonisierten technischen Normen. Grundsätzlich stellte sich damit auch die Frage, ob Normen urheberrechtlich schutzfähig sind und ob die Rechtsstaatlichkeit der EU sowie der Grundsatz der Transparenz und das Recht auf Zugang zu Dokumenten damit im Widerspruch stehen.
Lesen Sie auch: Green Deal – Mit Blessuren durchs Europäische Parlament gekommen
Der Fall Malamud: Rechtsstreit um Urheberrechte an Normen
Amtlich geht es um die Rechtssache C-588/21 P – die auch als „Malamud-Fall“ bezeichnet wird und eine längere Vorgeschichte hat. Denn die vom Internetaktivisten Carl Malamud gegründete Organisation Public.Resource.Org hatte im Dezember 2012 zahlreiche Normen frei verfügbar ins Internet gestellt und wurde deshalb wegen Urheberschutzverletzungen verklagt, unter anderem vom DIN (Deutsches Institut für Normung). Das Landgericht Hamburg gab dem DIN im März 2013 recht und begründete: „Auch DIN-Normen können urheberrechtlichen Schutz genießen, wenn sie die sonstigen allgemeinen urheberrechtlichen Voraussetzungen erfüllen.“ Zur Einsehbarkeit reiche es, wenn die Normen öffentlich ausgelegt werden. Ihrerseits verklagte die Organisation von Malamud später die Europäische Kommission. Nun wird das Urteil dazu erwartet.
Im Wesentlichen gibt es nun zwei Positionen: Die Netzaktivisten fordern einen kostenlosen Zugang zu harmonisierten technischen Normen – auch online. Das gilt insbesondere für Normen, die nach geltendem Recht für die Sicherheit der Bürger sorgen, beispielsweise bei Fahrrädern und Schnullern. Das dürften auch die meisten Nutzer und Nutzerinnen solcher Standardisierungswerke befürworten. Auf der anderen Seite sehen Normungsorganisationen wie DIN und DKE darin eine Gefahr für die europäische Wirtschaft. Die Erstellung der harmonisierten Normen wäre demnach bei einem alternativen Verfahren für sogenannte „Common Specifications“ nicht mehr in der bewährten privatwirtschaftlichen Weise finanziert. Sie befürchten unter anderem, dass die Erarbeitung durch die Experten und Expertinnen aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft zunächst nicht mehr gewährleistet sein könnte. „Gemeinsame Spezifikationen“ füllen in der EU bisher beispielsweise die Lücken im Bereich der Medizinprodukteverordnung (MDR), wenn harmonisierte Normen fehlen oder nicht ausreichen. Die Europäische Kommission kann Common Specifications festlegen, wenn den „Belangen der öffentlichen Gesundheit Rechnung getragen“ werden muss.
Welche Rolle Normen für Deutschland und Europa im globalen Wettbewerb spielen
Wer verstehen will, warum Normen für Volkswirtschaften wichtig sind, muss tief in die Normungsprozesse einsteigen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages kommt beispielsweise in einer Ausarbeitung für die Abgeordneten von Februar 2023 zu dem Ergebnis: „Normen und Standards sorgen für Transparenz, Kompatibilität, Sicherheit und Qualität sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher. Diese Standards umfassen dabei nicht nur physische Technologien, sondern auch Software und Codes.“ Weiter heißt es: „Standards und Normen helfen Technologien, in sämtliche Lebensbereiche vorzudringen. Sie hebeln oder ermöglichen sogar erst Transformationen und machen Fortschritt wirtschaftlich. Damit sind Normen und Standards auch ein potenzieller Machtfaktor.“ Ebenso kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass Deutschland als Exportnation besonders von den Möglichkeiten profitiert, die die Normung und Standardisierung für den globalen Handel bieten.
In Deutschland gibt es beispielsweise mit dem DIN (Deutsches Institut für Normung) und der DKE (Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik in DIN und VDE) zwei maßgebliche Normungsorganisationen. Auf der Homepage des DIN heißt es: „Die Normung ist ein Instrument der Selbstverwaltung aller am Wirtschaftsleben Beteiligten. Sie dient dem Nutzen der Allgemeinheit und nicht dem wirtschaftlichen Sondervorteil Einzelner. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ermöglicht DIN allen Interessensgruppen Zugang zur Normungsarbeit. Interessen, die den Schutz und die Sicherheit der Allgemeinheit zum Ziel haben, werden in der Normungsarbeit in der Regel von Experten der öffentlichen Hand, von Bund, Ländern und Kommunen vertreten.“ Im Gegenzug verweist der Staat in seiner Gesetzgebung auf DIN-Normen, anstatt selbst technische Regelungen festzulegen. Somit trage Normung zur Deregulierung bei.
In Deutschland kann sich jeder an der Normung beteiligen
Grundsätzlich kann sich an der Normung in Deutschland jeder beteiligen. Der Prozess bis zur Umsetzung einer Norm wird von der DKE wie folgt beschrieben: Am Anfang steht ein Antrag oder eine Idee. Ein Gremium aus Experten aus dem jeweiligen Themenbereich diskutiert diese Eingabe und erarbeitet bei Zustimmung einen Normenentwurf. Dieser wird zunächst im DIN-Anzeiger veröffentlicht. Innerhalb einer definierten Frist werden dann Vorschläge, Stellungnahmen oder Einsprüche gesammelt, bevor das Gremium im Konsens die endgültige Norm sowie Beiträge für die europäische oder internationale Normung festlegt. Erst nach allgemeiner Zustimmung erfolgt die Aufnahme in das Deutsche Normenwerk.
Lesetipp: Einigung über neue Schadstoffnorm Euro 7
Europäische Normen werden unter dem Dach der Normungsorganisationen CEN, CENELEC (speziell für die Elektrotechnik) und ETSI (Telekommunikation) festgelegt. Auf internationaler Ebene gibt es dafür die ISO (Internationale Organisation für Normung), die IEC (International Electrotechnical Commission) und die ITU (International Telecommunication Union). Auf internationaler Ebene gilt dabei das „nationale Delegationsprinzip“. Das heißt: In jedem Mitgliedsland erarbeiten sogenannte Spiegelgremien die nationale Stellungnahme. Aus diesen Spiegelgremien wiederum werden Expertinnen und Experten in das jeweilige internationale Arbeitsgremium entsandt. Ein Mitgliedshandbuch der ISO regelt hierzu alle Rechte und Pflichten sowie Handlungsgrundsätze der Normungsorganisation.
Zur internationalen Normung stellt der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestag fest: „Das Entsenden von Experten in internationale Normungsorganisationen ist eine wesentliche Grundlage, um in den technischen Komitees und Ausschüssen die deutsche Position zu vertreten.“ Mit Verweis auf die OECD-Berichte zur Innovationspolitik Deutschland 2022 heißt es allerdings: „Während deutsche Vertreter vor allem in technischen Ausschüssen aktiv sind, in denen die deutsche Industrie ihre Kernkompetenzen hat, wird beispielsweise unterstrichen, dass in neueren, beschleunigten Technologiebereichen und Querschnittsthemen wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz oder Kreislaufwirtschaft zunehmend andere Staaten schneller sind und Einfluss auf die Standardsetzung ausüben.“
Dazu wird angemerkt, dass diese Mitwirkung durch Experten aus der Wirtschaft mit Aufwand verbunden ist. Dazu heißt es: „Einerseits werden wirkliche Experten benötigt. Diese sind bereits in den Unternehmen wegen des aktuellen Fachkräftemangels nur begrenzt verfügbar und würden beim Engagement in der Normung in ihren Unternehmen umso mehr fehlen. Zudem werden die Kosten zur Unterhaltung von Sekretariaten in den internationalen Normungsorganisationen ebenfalls von der Industrie getragen.“
Wer entwickelt Normen in den USA und in China?
In den Vereinigten Staaten koordiniert das American National Standards Institute (ANSI) die Entwicklung freiwilliger Normen. Das ANSI ist eine private, gemeinnützige Organisation. Sie vertritt die USA als einzige US-amerikanische Organisation bei der ISO. Auch diese Non-Profit-Organisation finanziert sich unter anderem aus dem Verkauf von Publikationen, Mitgliederbeiträgen, Zertifizierungsleistungen und gebührenpflichtigen Programmen.
In den Vereinigten Staaten gibt es deshalb ebenfalls schon länger eine Diskussion über die Offenlegung von „Public Safety Standards“. 2013 sahen dort die Standardisierungsorganisationen ASTM International, die nationale Brandschutzbehörde und der Berufsverband der Heiz- und Kühlingenieure (ASHRAE) ihre Urheberrechte verletzt und gingen wie das DIN gerichtlich gegen Public.Resource.Org und Carl Malamud vor. Laut dem „USGlass Magazin“ argumentierte auch das ANSI zu nationalen Gesetzesvorhaben, zumindest einen Teil der Normen frei zu veröffentlichen, dass ein kostenloser Nur-Lese-Zugang den Markt für den Kauf von Normen zerstören und die Hauptfinanzierungsquelle für die Entwicklung dieser Normen beseitigen könnte. Dennoch: 2020 hat das oberste Gericht des Bundesstaates Georgia entschieden, dass Gesetze und andere Werke von US-Gesetzgebern frei verbreitet werden dürfen.
In der Volksrepublik China gibt es seit 2001 mit der „Standardization Administration of China“ (SAC) eine staatliche Normierungsbehörde der Volksrepublik China. Im Gegensatz zum 1916 gegründeten Deutschen Institut für Normung (DIN) und dem seit 1961 bestehenden Europäischen Komitee für Normung (CEN) ist die SAC also noch eine recht junge Organisation. Über das DIN gibt es jedoch bereits seit 1979 eine deutsch-chinesische Zusammenarbeit in Sachen Normung. Die SAC vertritt Chinas Interessen in den internationalen Normungsgremien ISO und IEC. Mit der technologischen Aufholjagd Chinas ist zu erwarten, dass das Land auf diese Weise künftig selbst internationale Standards prägen möchte.