Unternehmen 01. Okt 2024 Von Peter Steinmüller Lesezeit: ca. 8 Minuten

Schaefflers Aufstieg unter die größten Autozulieferer der Welt

Der Historiker Gregor Schöllgen über die Unternehmerfamilie Schaeffler, ihre Krisenstrategie und ihr Verhältnis zu Spitzenmanagern und der IG Metall.

Beim Börsengang von Schaeffler am 9. Oktober 2015 grüßen vom Frankfurter Parkett: Gesellschaftlerin Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann mit (v. l.) ihrem Sohn und Aufsichtsratsvorsitzenden Georg F. W. Schaeffler, ihrem Ehemann Jürgen R. Thumann und Klaus Rosenfeld, Vorstandsvorsitzender der Schaeffler AG.
Foto: Schaeffler

Zum 1. Oktober 2024 beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte von Schaeffler. Durch die Übernahme von Vitesco rückt der Autozulieferer in die Top 10 seiner Branche weltweit auf. Der Umsatz schwillt von 15,8 Mrd. € auf rund 25 Mrd. € an. Die Mitarbeiterzahl schnellt von 83.000 auf 120.000 in die Höhe. Es ist der vorläufige Höhepunkt in der Geschichte eines Unternehmens, das als Teppichfabrik begann, als Rüstungszulieferer groß wurde und mit der Motorisierung der Bundesrepublik seinen Aufstieg an die Weltspitze bestritt.

VDI nachrichten hat Anfang 2022 mit dem Historiker Gregor Schöllgen gesprochen, der eine Unternehmensgeschichte verfasst hat:

VDI nachrichten: Herr Professor Schöllgen, wie reagierten Sie, als die Familie Schaeffler anfragte, ob Sie aus Anlass des 75. Firmenjubiläums die Familien- und Unternehmensgeschichte in einem Buch aufbereiten könnten?

Gregor Schöllgen: Geehrt und gefordert. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass eine Familie und ein Unternehmen von dieser Statur und mit dieser bewegten Geschichte einem unabhängigen Historiker die Möglichkeit geben, ihr Innenleben unter die Lupe zu nehmen. Und das ohne jeden Vorbehalt.

Wie gingen Sie an die Aufgabe heran?

Unverzichtbar war der uneingeschränkte Zugang zu den Papieren der Firma und der Familie. Den sagten mir die Familie Schaeffler und die Führung ihres Unternehmens zu. Und daran haben sie sich ohne Abstriche gehalten. Eine zweite herausragend wichtige Quelle waren Gespräche vor allem mit ehemaligen Mitarbeitern. Dass darunter auch solche waren, von denen die Schaefflers sich getrennt hatten, fand ich respektabel.

Gibt es Sachverhalte, die Sie beim Verfassen des Buchs überrascht haben?

Ja, die gibt es. Mir war nicht bewusst, mit welchen existenziellen Herausforderungen es die Familie und ihr Unternehmen wiederholt zu tun hatten und wie entschlossen und konsequent sie damit umgegangen sind.

„Die Neugier hat Georg Schaeffler zeitlebens angetrieben und seine Leute mitgerissen“

Was waren die Stärken, die Schaeffler diese Krisen hat bewältigen lassen?

Es gibt ein Merkmal, das Schaeffler von den allermeisten Familienunternehmen unterscheidet: In den 75 Jahren seines Bestehens hat das Unternehmen nur vier Gesellschaftern gehört, dabei immer nur zweien zur gleichen Zeit. Zu zweit kann man sich in der Regel schneller und direkter verständigen als in einem deutlich größeren Kreis. Und dann konnten sich die Schaefflers von Anfang an auf ihre hohe Innovationskraft verlassen. Mit dem gleichermaßen einfachen wie genialen Entwurf des käfiggeführten Nadellagers hat Georg Schaeffler 1950 gezeigt, wie es gehen kann und gehen muss. Dabei war er von Hause aus kein gelernter Ingenieur, sondern Diplomkaufmann. Diese Neugier hat ihn zeitlebens angetrieben und seine Leute mitgerissen. Das sorgt auch in schweren Krisen für Zuversicht.

Bedeutet das nicht ein großes Risiko, wenn Entscheidungen im Unternehmen von einer ganz kleinen Zahl von Personen getroffen werden?

Ja, sicher. Deswegen und weil die beiden keine Techniker waren und sind, haben Maria-Elisabeth und ihr Sohn Georg F. W. Schaeffler unmittelbar nach dem Tod des Patriarchen im Sommer 1996 zwei Gremien installiert, die zu Lebzeiten Georg Schaefflers so nicht denkbar waren. Zum einen wurde eine Geschäftsleitung berufen, die diesen Namen auch verdiente. Zum anderen riefen die beiden Gesellschafter einen Beirat aus unabhängigen Fachleuten ins Leben. Das war ein maßgebliches Gremium. Mit der Überführung des Unternehmens in eine GmbH und wenig später in eine AG wurde der Beirat durch den Aufsichtsrat abgelöst . Dank dieses stabilen Rahmens konnte der Generationenwechsel, denn ein solcher war der Übergang, bruchlos vollzogen werden. Das gelingt beileibe nicht immer und nicht allen.

„Georg Schaeffler hatte einen Kreis fähiger und hoch motivierter Ingenieure um sich geschart“

Diese Leitungsstrukturen wurden aber eingezogen, obgleich das Unternehmen 50 Jahre lang auch ohne sie erfolgreich war.

Das ist richtig. Allerdings war auch Georg Schaeffler kein Alleinunterhalter. Zum einen hatte er bis zu dessen Tod 1981 den älteren Bruder Wilhelm an seiner Seite. Der war studierter Betriebswirt, hatte in den 30er-Jahren das Handwerk bei der Dresdner Bank gelernt und kümmerte sich jetzt um die Finanzen. Vor allem aber hatte Georg Schaeffler einen Kreis fähiger und hoch motivierter Ingenieure um sich geschart. Das waren Leute, die er achtete und von denen er sich gegebenenfalls auch korrigieren ließ.

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Sie weisen in Ihrem Buch auf die stark verschachtelten Unternehmensstrukturen hin, die für Schaeffler über Jahrzehnte typisch waren. Wie konnten da die oft beschworenen kurzen Entscheidungswege funktionieren?

Weil die Größe des Unternehmens und seine innere Struktur nichts an den Eigentumsverhältnissen und – was sehr wichtig ist – an dem unhinterfragten Vertrauen der beiden Brüder änderte. Im Übrigen ist diese Verschachtelung nicht nur bei den Schaefflers zu beobachten, im Gegenteil. Sie war eine fast zwangsläufige Begleiterscheinung der ungeheuren Dynamik, mit der neugegründete Unternehmen wie dieses infolge des Wirtschaftswunderbooms wuchsen. Entscheidend war, dass sich die Schaefflers auch in der Boomzeit auf ihre Kernkompetenzen konzentriert haben. Das waren allen voran die Wälzlager, dann die Lineartechnik und die Motorenelemente, mit der Gründung von LuK Anfang 1964 Kupplungssysteme und anderes mehr.

Die krisenerprobte Improvisation war laut Georg Schaeffler die Stärke seines Unternehmens. Aber ist ein Konzern mit den Strukturen des Mittelständlers nicht eher im Nachteil?

Ein Familienunternehmen wie das der Schaefflers entsteht typischerweise, indem ein Einzelner eine zündende Idee hat, die sich umsetzen und kapitalisieren lässt, dann die richtigen Leute findet – oder auch anzieht – und mit diesen durchstartet. Mit dieser Kraft, einer Mischung aus Kompetenz, Loyalität und Zuversicht, lässt sich fast jede Krise meistern. Die Frage ist, ob sich diese innovative Kraft bewahren und transformieren lässt, wenn das Unternehmen und die Belegschaft so rasant wachsen wie die heutige Schaeffler Gruppe in den vergangenen 25 Jahren. Es sieht ganz danach aus.

„Jürgen M. Geißinger verspielte das Vertrauen der Schaefflers“

Seit 1996 wird das Unternehmen nicht mehr direkt von der Familie geführt. Trafen die Schaefflers bei der Auswahl ihrer Spitzenmanager die richtigen Entscheidungen?

Genau genommen waren beziehungsweise sind es zwei. Der erste, den Maria-Elisabeth Schaeffler 1998 holte, war Jürgen M. Geißinger, ein erfahrener, profilierter, ehrgeiziger Ingenieur, dem das Unternehmen viel verdankt. Er war der Mann, der den Konzern nach der langen Zeit des Patriarchats so aufstellte, dass sich Schaeffler innerhalb eines Jahrzehnts die Übernahme der zweiten Hälfte von LuK, die komplette Übernahme der FAG und den Einstieg bei Conti zutrauen konnte. Richtig ist allerdings auch, dass er die Bodenhaftung verlor und das Vertrauen der Schaefflers verspielte. Das erwarb sich Klaus Rosenfeld, ein profilierter Banker, der im Frühjahr 2009, also während der schweren Krise um Conti, von den Schaefflers als Finanzvorstand geholt wurde und nun seinerseits das Unternehmen finanziell zukunftsfähig aufstellte. Anfang Oktober 2013 trennten sich die Schaefflers von Geißinger, Rosenfeld übernahm zunächst interimistisch, Anfang Juli 2014 endgültig den Vorstandsvorsitz und führte das Unternehmen im Herbst 2015 an die Börse.

Der Vorstandsvorsitzende Klaus Rosenfeld stieß während der Krise von 2009 zu Schaeffler und stellte das Unternehmen finanziell zukunftsfähig auf. Foto: Schaeffler

Die Krise bei der Übernahme von Continental konnte Schaeffler erstaunlich schnell meistern. Warum gelang das so gut?

Dass die Schaefflers es schafften, lag an ihrem Stehvermögen, an der soliden operativen und technischen Substanz ihres Unternehmens, an einem kleinen Kreis erfahrener und loyaler Berater, auf die sie sich verlassen konnten, und nicht zuletzt an der Solidarität der Belegschaft. Die spontane Solidaritätsbekundung, zu der sich Mitte Februar 2009 8000 Mitarbeiter in Herzogenaurach zusammenfanden, war ein authentischer Ausdruck der Verbundenheit. Und dann waren da noch die IG Metall und ihr Vorsitzender Berthold Huber. Deren besonnene und konstruktive Kooperation war für das Meistern dieser schweren Krise mitentscheidend. Für die IG Metall wiederum bedeutete die Ende Februar 2009 unterzeichnete „Zukunftsvereinbarung“ der Einstieg in die Mitbestimmung, von der man bis dahin bei Schaeffler nichts wissen wollte.

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Wie kam es zu dieser engen Abstimmung der Schaeffler-Familie mit der IG Metall?

Das Verhältnis der Schaefflers zu den Gewerkschaften und insbesondere zum Betriebsrat war aufs Ganze gesehen unbelastet. Georg Schaeffler stand im Gespräch mit dem Betriebsrat und besuchte selbstverständlich die Betriebsversammlungen. Bezeichnenderweise gab es, von einem „Warnstreik“ in der Frühphase abgesehen, bis 1992 keinen Streik. Das ist in dieser Branche eher die Ausnahme. Und auch diese Auseinandersetzung wurde nach einem Gespräch zwischen Georg Schaeffler („Jungs, was ist denn los?“) und dem Konzernbetriebsrat beigelegt. Daran knüpften Maria-Elisabeth und Georg F. W. Schaeffler an, als sie im Mai 1997 nach sieben Verhandlungsrunden mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft ein Bündnis für Arbeit schlossen.

Das Nadellager war die wichtigste Innovation der Schaeffler-Geschichte und begründete den Aufstieg zum Weltkonzern. Foto: Schaeffler

Was waren dessen Eckpunkte?

Für die Gesellschafter und die Geschäftsführung ging es um eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten auf Basis der 35-Stunden-Woche, insbesondere um die Etablierung des Samstags als Regelarbeitszeit ohne Lohnzuschlag. Im Gegenzug sagten sie bis zur Jahrtausendwende eine Arbeitsplatzgarantie und die Schaffung von zusätzlich 600 Arbeitsplätzen in Herzogenaurach zu. Daran haben sie sich ebenso gehalten wie an die Zusagen, die sie nach der Übernahme der FAG im Herbst 2001 dem dortigen Betriebsrat und der Gewerkschaft gaben. So gesehen war das Verhältnis der Schaefflers zur IG Metall 2009 ziemlich belastbar.

„Der Einzug Willy Brandts ins Kanzleramt kam für die Brüder Schaeffler dem Weltuntergang ziemlich nahe“

Widersprach das insgesamt gute Verhältnis schon der Brüder Schaeffler zur IG Metall nicht ihrem politischen Selbstverständnis?

Für Wilhelm und Georg Schaeffler war das kein Widerspruch. Dass sie der CSU nahestanden, war bekannt, wenn sie auch politisch weder dort noch sonst irgendwo in Erscheinung getreten sind. Dass der Einzug Willy Brandts ins Kanzleramt für die Brüder Schaeffler dem Weltuntergang ziemlich nahe kam, war kein Geheimnis. Aber damit waren sie in Unternehmerkreisen nun wahrlich keine Ausnahme. Ihrem Verhältnis zur IG Metall tat das keinen Abbruch.

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Aber wie passt die Berufung Wolfgang Falcks zum Personalchefin dieses Bild – eines Mannes mit rechtsradikalem Profil?

Bis sich die Partei 1952 auflöste und damit einem Verbot durch das Bundesverfassungsgericht zuvorkam, war Wolfgang Falck Mitglied der Sozialistischen Reichspartei (SRP), einer Partei mit deutschnationaler, kryptonationalsozialistischer Ideologie. Falck saß für die SRP auch im niedersächsischen Landtag, wo die Partei immerhin 16 Abgeordnete stellte. Die Schaefflers holten Falck 1955, weil sie ihm das Personalmanagement zutrauten. Tatsächlich wurde er ein sehr erfolgreicher und respektierter Personaler. In Bayern angekommen, engagierte sich Falck in der CSU und machte gegen die SPD mobil. Den Schaefflers war das recht, solange er nicht weiter ging. Und das tat er nicht. Das erklärt auch, warum es bis zu Falcks Eintritt in den Ruhestand 1990 keine nennenswerten Differenzen mit dem Betriebsrat oder der IG Metall gegeben hat.

Wälzlager als Kunst: Dieses Radial-Pendelrollenlager mit einem Außendurchmesser von 3,2 m wurde von Schaeffler für ein Riesenrad in Peking konzipiert. Es steht als Exponat vor dem Stadttheater in Schweinfurt. Die Übernahme der dort ansässigen FAG Kugelfischer AG war einer der spektaktulären Coups der Schaefflers. Foto: Steinmüller

Bei Forschungsprojekten benennt der Abschlussbericht üblicherweise den weiteren Forschungsbedarf. Wo sehen Sie diesen beim Thema „Schaeffler“?

Was die Geschichte der Familie und ihres Unternehmens angeht, so darf sie mit meinem Buch auch deswegen als erschöpfend erforscht gelten, weil ich uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Papieren hatte. Offen ist die Frage nach der Zukunft: Ist die Schaeffler Gruppe so aufgestellt, dass sie der Pionier bleiben wird, der sie nach eigenem Verständnis immer gewesen ist? Vieles spricht dafür. Aber die Antwort auf diese Frage gibt nicht der Historiker.

Maria-Elisabeth Schaeffler hat die Verantwortung weitgehend an Ihren Sohn abgegeben. Georg F. W. Schaeffler geht auf die 60 zu, er ist der einzige Vertreter der Familie in seiner Generation. Wie können die Identität und Zukunft des Unternehmens gesichert werden?

Indem die Entscheidungen rechtzeitig und weitsichtig getroffen und nicht ohne Not vorzeitig kommuniziert werden. So wie das Unternehmen heute auf der Gesellschafter- wie auf der operativen Ebene aufgestellt ist und geführt wird, besteht dazu keine Veranlassung.

Die Frage nach der Zukunft von Schaeffler gibt nicht der Historiker, sagt Gregor Schöllgen. Der Geschichtswissenschaftler hat eine mehr als 600 Seiten umfassende Geschiche des Unternehmens verfasst. Foto: Gudrun Senger
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